Der Filmemacher und Opernregisseur Axel Ranisch inszeniert – einfach kompliziert – Sergej Prokofjews „Die Liebe zu drei Orangen“ an der Stuttgarter Staatsoper vor dem Hintergrund eines Computerspiels. Aber Hintergrund bleibt nicht Hintergrund.

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

Stuttgart - 1921 ist das Jahr, in dem musikalisch allerhand ins Wanken gerät: Paul Hindemith beginnt in seinen Kammermusiken, die klassische Harmonik zu destabilisieren. Der Jazz, afroamerikanisch grundiert, macht sich breit – und in Donaueschingen werden die „Musiktage zur Förderung zeitgenössischer Tonkunst“ gegründet. Von Arnold Schönberg und seiner Schule nicht zu reden. Und wo ist Sergej Prokofjew, geboren 1891 , gestorben 1953, am selben Tag wie der Diktator Josef Stalin? In Chicago, bei der Uraufführung seiner französischsprachigen Oper in vier Akten und einem Vorspiel: „Die Liebe zu drei Orangen“, wie sie jetzt, fast hundert Jahre später, in der gleichzeitig zupackenden und subtilen neuen deutschen Übertragung von Werner Hintze an der Staatsoper Stuttgart heißt. „Prokofjews Musik“, schrieb seinerzeit Emil Raymond anerkennend, „ähnelt nichts, was je auf dem Gebiet der Oper versucht wurde“.

 

Was die Regie des Berliner Theater- und Opernregisseurs Axel Ranisch in Stuttgart betrifft, kann man den Satz im Prinzip gleich so stehen lassen, denn Ranisch gelingt ein seltenes Kunststück: Er erzählt einerseits höchst spielerisch ein satirisches Märchen des Librettisten Carlo Gozzi, das eine Fundamentalkritik an der Theaterpraxis der Commedia de’ll Arte im Venedig des achtzehnten Jahrhunderts darstellte, wie sie Carlo Goldoni verstand. Goldoni wollte, verkürzt gesagt, Realismus, Gozzi Fantastik; Goldoni das Glaubwürdige, Gozzi das Unglaubwürdige. Der eine den Menschen, der andere die Maske.

Inszenierung auf mehreren Ebenen

Den Gozzi-Stoff – das ist historisch die zweite Ebene der Inszenierung – bekam Prokofjew zugespielt von Wsewolod Meyerhold, der im revolutionären Russland von 1918 in einer ähnlichen Fehde steckte wie seinerzeit Gozzi mit Goldoni. Meyerholds Gegner war sein Lehrer und hieß Konstantin Stanislawski. Dessen Theaterbegriff, der später in Lee Strasbergs prägendem „Method Acting“ aufgehen sollte, verlangte emotionale Glaubwürdigkeit; Meyerhold wollte nach eigener Kunstgesetzlichkeit arbeiten. Ranisch weiß das alles, inszeniert den Methodenstreit stets implizit mit, setzt aber gewissermaßen in seiner Regie noch eine Ebene drauf, die alle Theorie theaterpraktisch überhöht. Sein Ansatz für die Bühne beruht auf seiner eigenen biografischen Erfahrung. Bevor der Film und die Bretter ihm Welt wurden, war die ein vergleichsweise noch grob verpixeltes Computerspiel aus den frühen neunziger Jahren, in Stuttgart „Orange Desert III“ genannt. Handlungsüberschrift: „In einer dystopischen Welt ohne Wasser kämpft eine Königsfamilie um ihr Überleben“. Ohne alle erwähnten historischen Hintergründe zu unterschlagen – vor allem, ohne sie auch nur im Mindesten zu vereinfachen – gewinnt die Geschichte von der „Liebe zu drei Orangen“, die in diesen Rahmen gestellt wird, von Anfang an eine Plausibilität, die sie als fortgeschriebene „Zauberflöte“ ausweist: Sie ist so familientauglich wie multifunktional tiefgründig und vielfältig deutbar. Aber von vorn.

Serjosha heißt der Bub (später famos auch im Raum gespielt von Ben Knotz), der sich zunächst aus dem Off als Stimme bemerkbar macht. Ein Junge, der abgekämpft von der Schule heimkehrt und nicht sonderlich begeistert ist, dass ihm der allein erziehende Vater Klopse zum Mittagessen anbietet („mit Kapern?“), um sich hinter den Computer zurückzuziehen, wo er in die Welt der Oper eintaucht, die er dann als Regisseur („Denn du bist Farfarello“) auch zu beeinflussen versucht.

Nicht nur Zitate aus „Star Wars“

Ranisch und seine über die Maßen fantasievolle Bühnen- und Kostümbildnerinnen (Saskia Wunsch; Bettina Werner und Claudia Irro) begnügen sich nun aber nicht nur damit, das Computerspiel als Hintergrund zu etablieren, sondern lassen vielmehr interaktiv das Eine im Anderen – und etliche Reminiszenzen an „Star Wars“ – abbilden: Die auf Knopfdruck abgerufene Absurdität, wenn in einer Wüstenlandschaft aus Atompilzen Blumengärten werden, verändert auch die Existenz des zahlreichen, naturgemäß nur zweidimensional erscheinenden Personals. Pixel aus dem Computer treffen auf Personen aus der Retorte, die ihrerseits zunächst absolut künstlich und überkonstruiert erscheinen müssen, sind sie doch (und von Prokofjew eben genauso so erdacht) als personifizierte Kritik an der Unlogik der Oper an sich gemeint: Pappkameraden in Fantasieuniformen, die teils dadaistisch anmutende Rollenprosa singen, wenn man so will.

Das alles wäre, nebenbei gesagt, als artifizielles und, bühnenbildnerisch gesehen, pointilistisches Experiment beeindruckend genug, stellt es doch das Operntheater als Ganzes brillant in Frage. Es hat aber noch mehr in sich.

Der eigentliche Coup von Axel Ranischs Inszenierung besteht darin, dass er szenisch die Maskenhaftigkeit zugunsten der Menschlichkeit aufhebt. Was anfangs. gerade in der expressionistischen Stummfilmgestik und surrealen Anlage, eine Persiflage der Commedia de’ll Arte ist, verliert zusehends zugunsten nachvollziehbarer Affekte. Es steckt mehr in „Die Liebe zu drei Orangen“ als die Farce vom gestörten Prinzen, der durch bloße Hexerei dann doch an eine Prinzessin gerät, die er rettet und, wiederum durch Zauberei, am Ende heiraten kann. Es steckt eine Analyse dessen drin, was Theater im besten Fall vermag: Welten entwerfen. Und verwerfen, je nachdem.

Ensemble aus einem Guss

Der Dirigent Alejo Pérez und das Staatsorchester sind Ranisch insofern eine große Hilfe, weil die Musik sich der Handlung in all ihrer Verfremdungslust mit Wagner-Klängen, Jazzskalen und Puccini-Parfüm förmlich organisch anschmiegt, aber immer auch auf Trennschärfe achtet. Pérez konstruiert seinerseits ein Klangmosaik, dessen Ecken und Kanten die Sänger zur Profilierung nutzen: Allen voran der neu zum Ensemble gestoßene isländische Tenor Elmar Gilbertsson (Prinz). Brillant an seiner Seite Daniel Kluge als Truffaldino, Goran Juric als sarastrohafter Kreuz-König, Michael Ebbecke als Zauberer Celio (in der Stuttgarter „Drei Orangen“- Inszenierung von Nicolaus Brieger, Anno 1995 war er Pantalone). Stine Marie Fischer, Shigeo Ishino, Johannes Kammler, Carole Wilson, Aytaj Shikhalizade, Fiorella Hincapié, Matthew Anchel, Christopher Sokolowski und, Prima inter Pares, schließlich die tatsächlich schwangere und besonders paminahafte Esther Dierkes als Prinzessin Ninetta: Es ist ein Ensemble der Extraklasse zuzüglich dem von Manuel Pujol hochlebendig einstudierten Chor, bei dem die Sonderlinge, rechts auf der Bühne hinter einem Regiestuhl, die Handlung strukturieren, als sie sich festzufahren droht.

Summa: Eine für alle Altersklassen geeignete Inszenierung, die in starkem Kontrast steht zur Eröffnungspremiere. Setzte Arpad Schilling bei „Lohengrin“ auf Reduktion der Mittel in der Regie, reizt Axel Ranisch sein ebenfalls sehr eigen, klug und komisch gestaffeltes Blatt aus bis zum letzten Trumpf. Als alle Handlungsebenen wie von selbst miteinander verschränkt sind, gibt das betörte Stuttgarter Publikum jede Zurückhaltung auf.