Erst seit Kurzem setzt das Erinnern an die als „Berufsverbrecher“ und „Asoziale“ in Konzentrationslagern Inhaftierten ein. In einem Buch erzählen Nachkommen nun ihre Geschichten – und warum sie noch heute Relevanz haben.

Psychologie und Partnerschaft: Eva-Maria Manz (ema)

Besonders deutlich wird der Unterschied an der Geschichte der beiden Leonhard Eichmüllers, zweier Cousins mit dem gleichen Namen, 1884 und 1900 geboren. Der eine, genannt Leo, kommt als aktiver Kommunist schon 1933 als politischer Häftling ins Konzentrationslager Dachau und bleibt dort zwölf Jahre eingekerkert. Der andere Leonhard, genannt Lohner, ist wegen einer verkrüppelten Hand Frührentner und lebt mit seiner Frau und mehreren Kindern am Gänsberg, einem Armenviertel in Fürth, dort gibt es „eine klassenbewusste Atmosphäre, aber auch eine irgendwie selbstverständliche Tendenz zu Kleinkriminalität“, heißt es im Buch „Die Nazis nannten sie ,Asoziale‘ und ,Berufsverbrecher‘“. Das Buch ist jetzt im Campus-Verlag erschienen und erzählt mehrere Geschichten lange vergessener und verleugneter Opfer der NS-Verfolgung aus Sicht ihrer Nachkommen.

 

1935 wird Lohner, der Mann aus dem Armenviertel, verhaftet, nach Dachau gebracht, auch seine Frau sperrt man zeitweise ein, die Kinder kommen vorübergehend in ein Heim. Später wird Lohner, der es überlebt, keine Entschädigung oder Anerkennung erhalten. Noch 1948 beschließt der bayerische Landtag nach einem Antrag der CSU sogar, das Lager in Dachau wieder in Betrieb zu nehmen, es sei ein Fehler gewesen, die ganzen „asozialen und kriminellen Elemente“ je herausgelassen zu haben – der Beschluss wird von den Alliierten einkassiert. Doch bei den Betroffenen habe es die Angst und das Gefühl der Ausweglosigkeit verstärkt, so schreibt es Ines Eichmüller, die Urenkelin Lohners in ihrem Beitrag über die Cousins.

Das Schicksal des politischen Häftlings Leo hingegen ist gut dokumentiert, es gibt viel Material zu ihm in den Archiven und Berichte von Mithäftlingen, Leo sagte in Nachkriegsprozessen der Dachau-Verfahren aus. Er habe auch nach Kriegsende kein leichtes Leben gehabt, aber Anerkennung erfahren und Entschädigung bekommen, „man glaubte ihm, nahm seine körperlichen und seelischen Narben ernst“. Leo galt als eindrucksvolle Persönlichkeit und Vorbild – das „war die Messlatte in unserer Familie“, schreibt Eichmüller, „und wohl auch in der Gesellschaft – zur Frage, wer als Vorbild dient und damit den Rang erhält, als erinnerungswürdig zu gelten.“ Das traf auf Leo Eichmüller zu – aber nicht auf Lohner.

Die Nazis kennzeichneten die Insassen der KZs mit einem Stoffdreieck

Menschen wie Lohner, die als „asozial“ oder als „Berufsverbrecher“ in den KZ gewesen waren, erhielten gegenteilige Reaktionen auf ihre KZ-Haft, hatten sie diese denn überhaupt überlebt. Sie wurden nach dem Krieg weder als NS-Opfer anerkannt noch entschädigt für das ihnen während der Naziherrschaft zugefügte Unrecht. Das trifft auf Zehntausende ehemaliger Häftlinge mit dem grünen („Berufsverbrecher“) oder schwarzen („Asoziale“) Winkel und ihre Familien und Nachkommen zu. Die Nazis kennzeichneten die Insassen der KZ mit einem Stoffdreieck auf der linken Brustseite der gestreiften Häftlingskleidung.

Erst im Jahr 2020 erkannte der Bundestag auch die als „Berufsverbrecher“ und „asozial“ Inhaftierten als Opfer des NS-Regimes an. Für die allermeisten kam das zu spät, denn sie waren bereits verstorben. In den Familien, denen sie angehörten, waren die Schicksale oft überhaupt nicht bekannt. Forschende vermuten, dass noch in Tausenden Familien Unklarheit herrscht über die KZ-Haft eines verstorbenen Angehörigen. Heute wissen viele von den jüdischen und politischen Opfern des Nationalsozialismus, manche von der Verfolgung der Homosexuellen oder der Sinti und Roma. Die meisten wissen aber nichts über die „sozialrassistische Verfolgung derer, die die Nationalsozialisten für genetisch verdorbene und deshalb ,auszumerzende‘ Menschen hielten und sie deshalb als Häftlinge in die Konzentrationslager sperrten“, heißt es im Buch.

Es brauchte nicht viel, um als „Berufsverbrecher“ oder „Asozialer“ im Konzentrationslager zu enden

„Niemand sprach über die Großeltern. Niemals. Wir bekamen lapidar mitgeteilt, sie seien im Krieg verstorben“, schreibt etwa Anke Schulte in ihrem Beitrag. In der Familie spricht ihre Mutter zwar nicht über die Schwiegereltern, aber immer abschätzig von einem „Verbrechergen“, das alle vom Großvater geerbt hätten – Vorurteile wie diese lebten noch lange mehr oder weniger bewusst im gesellschaftlichen Kontext weiter.

Es brauchte damals nicht viel, um als „Berufsverbrecher“ oder „Asozialer“ im Konzentrationslager zu enden, das dokumentieren diese gesammelten Geschichten in dem Buch eindrucksvoll. Herausgegeben hat es der Sozialwissenschaftler Frank Nonnenmacher, der sich mit einem Verband und seiner Forschung schon seit Jahren für diese vergessenen Opfer einsetzt. Sein Onkel Ernst Nonnenmacher zählte auch zu den Opfern dieser Gruppe.

Anke Schultes Großvater war ein im Ersten Weltkrieg verwundeter Frontsoldat. Aus diesem Krieg kehrt er wie so viele wohl tief traumatisiert zurück. Er lebt auf der Straße, kommt wegen Bettelei und kleineren Diebstählen mehrmals ins Gefängnis. Nach der letzten Haft wird er aber nicht entlassen, die Kripo nimmt ihn 1936 direkt in „Vorbeugungshaft“ und deportiert ihn ins KZ Sachsenhausen – er gilt nun als „Berufsverbrecher“, der eingesperrt wird, obwohl er seine Haft eigentlich abgebüßt hat. Seine Frau bleibt alleinerziehend mit sieben Kindern zurück, wird nach „Verkehr mit einem Polen“ schwanger, das Kind nehmen ihr die Behörden weg. 1942 landet sie im KZ Ravensbrück.

Die Aufarbeitung ließ lange auf sich warten

Das Problem mit der Aufarbeitung dieser Geschichten lag in den Jahrzehnten nach dem Krieg in den beständigen Vorurteilen, innerhalb der Familien und der Gesellschaft. „Man kam ja nicht ohne Grund ins KZ“, hieß es. Die „Grünwinkligen“ galten manchen nach wie vor als „Verbrecher“, die oft Kapos der SS-Lagerführer gewesen seien.

Die Scham und das Schweigen in den Familien waren groß, das zeigt jede der Geschichten im Buch. Alfons L. Ims erklärt in dem Kapitel über seine Pfälzer Familie, welche Folgen das haben kann: „Das Unter-den-Teppich-Kehren schafft genau den Freiraum, in dem sich das menschenverachtende Denken der Täter wieder breit machen kann.“ Gebe es keine Auseinandersetzung, könne kein Bewusstsein für das Unrecht entstehen. Bundestagspräsidentin Bärbel Bas schreibt in einem Vorwort, das Buch schärfe „das Bewusstsein für die Mechanismen gesellschaftlicher Ausgrenzung“, die aktueller denn je seien, wenn wie heute die „Hemmschwellen für Hass und Hetze sinken“.

An individuellen Schicksalen zeigt sich deutlich, was es bedeutet, in einem Unrechtsstaat zu leben, behördlicher und menschlicher Willkür ausgeliefert zu sein – und wie lange die Wunden über Generationen offen bleiben. Anke Schulte schreibt: „Wir wissen heute um das große Unrecht, das unseren Großeltern widerfahren ist. Wir sind voll Mitgefühl für unsere Väter, die als Kinder ihre Eltern verloren haben und damit auch ihre Familie. Wir wissen, Sprachlosigkeit und Scham, Einsamkeit und Schmerz gehören zu unserem Erbe, das wir nicht an unsere Nachkommen weitergeben wollen. Es ist den Nazis nicht gelungen, uns zu vernichten. Wir sind noch da.“

Weitere Infos

Opfergruppe
 Es reichten Obdachlosigkeit, Prostitution, Abtreibung: Das NS-Regime sortiert von 1933 an alle aus, die als „minderwertig“ und „gemeinschaftsunfähig“ gelten. Den Begriff „Asoziale“ nutzen sie als eine Sammelkategorie zur Verfolgung sozialer Außenseiter. Es kommt zu Massenverhaftungen Ende der 30er Jahre, etwa der Aktion „Arbeitsscheu Reich“ 1938. Die Bezeichnung „Berufsverbrecher“ geht auf eine Theorie aus der Zeit der Weimarer Republik zurück, der zufolge es Menschen gibt, die mit Verbrechen ihren Lebensunterhalt bestreiten. Sie sollen aus der „Volksgemeinschaft entfernt“ werden. Die Nazis setzen die Praxis willkürlich ein, aus rassenideologischen Gründen argumentierten sie mit der „Ausmerzung krimineller Gene“.

Buch
 Frank Nonnenmacher (Hg.): Die Nazis nannten sie „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ – Geschichten der Verfolgung vor und nach 1945. Campus Verlag, 372 Seiten, 29 Euro.