Vorwürfe widerlegt: Die katholische Kirche kann nachweisen, dass hinter den Todesfällen eines 1980 geschlossenen Kinderheims keine Verbrechen stecken.  

Politik/Baden-Württemberg: Rüdiger Bäßler (rub)

Hürbel - Er sei „alarmiert“ gewesen, als er am 29. August 2011 die Stuttgarter Zeitung aufgeschlagen habe, schilderte am Donnerstag der Esslinger CDU-Bundestagsabgeordnete Markus Grübel. Anlass war die Reportage „Freunde in der Dunkelheit“, die mit einem Foto der beiden einstigen Heimkinder Elvis Stiurins und Paul Nägele illustriert war. Die Männer, zu denen auch noch Wolfgang Ott gehörte, erzählten Unglaubliches von ihrem Aufwachsen im katholischen Säuglingsheim St. Josef in Hürbel (Kreis Biberach). Sie berichteten von Misshandlungen, Schlägen durch Ordensschwestern, Medikamentengaben zur Ruhigstellung der Elternlosen, einem geheimnisvollen Friedhof mit vielen Grabkreuzen und vom späteren sexuellen Missbrauch durch einen Pfarrer im nahen Kinderheim Oggelsbeuren. Das Heim wurde 1980 geschlossen.

 

„Entweder stimmten die Vorwürfe, dann konnten wir sie nicht so stehen lassen“, sagte nun Markus Grübel, Vorsitzender der Kommission zur Aufklärung sexuellen Missbrauchs innerhalb der Diözese Rottenburg-Stuttgart. „Oder sie stimmten nicht, dann konnten wir sie auch nicht stehen lassen.“ Gut acht Monate nach Erscheinen der Reportage hat die Diözese nun das Ergebnis ihrer Recherchen um die Vorgänge in St. Josef vorgelegt.

Die Untersuchung beschäftigt sich in keinem Teil mit dem Vorwurf des sexuellen Missbrauchs – alle drei Männer sind inzwischen von der Diözese als Opfer anerkannt, zwei von ihnen sind mit jeweils 5000 Euro entschädigt worden. Allerdings sieht die Kirchenleitung den Vorwurf entkräftet, auf dem früheren Säuglingsfriedhof von Hürbel seien Kinder anonym begraben worden – gerade auch solche, die an der Folge von Misshandlungen gestorben sein könnten. Dieser Vorwurf, genauer: diese böse Ahnung der erzählenden früheren Heimbewohner klang im StZ-Artikel an.

Das Säuglingsheim wurde 1980 geschlossen

Seit November vergangenen Jahres hat der Diözesanhistoriker Stephan Janker Sterbeakten in Hürbel gesichtet, Dokumente im Kloster Oggelsbeuren und im Staatsarchiv Sigmaringen durchgesehen. Er durchforstete Chroniken, Tagebücher und persönliche Erinnerungsdokumente ehemaliger Heimkinder. Das Ergebnis: alle Vorwürfe, in Hürbel seien Kinder gequält und anonym „verscharrt“ worden, seien, sagt Grübel, „weitestgehend widerlegt“.

Tote Kinder gab es dennoch. Allerdings, so sagen die Kirchenvertreter, prozentual nicht mehr als in anderen Heimen jener Zeit. Von der Eröffnung 1908 bis zum Jahr 1970 haben sich laut der vorgelegten Dokumentation in Hürbel 4200 Säuglinge und Kleinkinder aufgehalten. 303 von ihnen sind gestorben, allein 260 zwischen den Jahren 1908 und 1924. Das schlimmste Jahr war 1914 mit 36 gestorbenen Kindern. Nach 1980 wurde das Heimgelände verkauft und der frühere Kinderfriedhof mit Häusern überbaut.

Die weiß gekalkten Grabkreuze, die Elvis Stiurins, Paul Nägele und Wolfgang Ott als Kinder gesehen hatten, waren also keine Fiktion. Doch anders als vermutet gibt es über die Todesursachen in jedem einzelnen Fall Unterlagen. Vier Masernepidemien, eine Keuchhustenepidemie und die Pandemie der Spanischen Grippe hätten, so die Untersuchung, die meisten Todesopfer gefordert. Zu den Todesursachen zählen beispielsweise in den Akten aber auch unbestimmte Begriffe wie „Auszehrung“, „Verdauungsstörung“, „Böser Hautausschlag“ oder „Lebensschwäche“.

Die drei Opfer wurden nicht zur Pressekonferenz eingeladen

Die drei ehemaligen Hürbeler Heimkinder, die gestern bei der Pressekonferenz ohne Einladung erschienen, zweifeln an der Unbestechlichkeit der vorgelegten Zahlen und Daten. Beispielsweise stört die Betroffenen die in der Dokumentation der Diözese auftauchende Schilderung einer „Cilly“. „Ich bin auch geschlagen worden“, wird diese heute 60-jährige Frau zitiert. „Das hat mit dem Stock sein können, auch mal ein Kleiderbügel.“ An anderer Stelle sagt diese anonym gehaltene Zeugin unvermittelt: „Ich würde heute wieder nach Hürbel gehen, weil’s gut war.“

Einmal wandte sich Markus Grübel direkt an Elvis Stiurins. Er sei selber Besuchskind in Hürbel gewesen. „Ich kannte Sie, wir haben zusammen gespielt“, sagte der Politiker. Die Atmosphäre in Hürbel sei ihm stets heiter vorgekommen. „Komisch, dass ich mich an Sie nicht erinnern kann, obwohl Sie nicht viel älter sind als ich“, entgegnete Stiurins. „Wir haben doch oft in letzter Zeit miteinander telefoniert. Da haben Sie nie etwas davon erzählt. Erst jetzt, bei dieser Pressekonferenz.“

So ging das wenige Versöhnliche, das gestern auch gesprochen wurde, eigentlich unter. Niemand wolle bestreiten, sagte Markus Grübel, dass die Erziehungsmethoden in der Heimerziehung bis zur Reform in den 1970er Jahren „oft keineswegs unseren heutigen Vorstellungen von einer kind- und jugendgerechten Pädagogik entsprochen haben“.