Doku-Zweiteiler: „1968 – Die globale Revolte“ Zeit des großen Aufbegehrens

Wütend waren sie, aber keine Wutbürger. Bürger war nämlich eher ein Schimpfwort für sie: Die jungen Protestierenden des Jahres 1968 wollten bürgerliche Konventionen über den Haufen werfen. Der Zweiteiler „1968 – Die globale Revolte“ liefert einen guten Abriss der Epoche.
Stuttgart - Der Protestbürger von heute brüllt gerne gegen die Lügenpresse an. Er verweist auf ehrlichere Informationsquellen im Internet. Folgt man den Empfehlungen, landet man schnell in einer Kloake des Unfugs: Bilderberger ,Transatlantiker, Reptiloiden, Chem-Trail-Piloten, Stasi-Agenten und eine jüdische Weltverschwörung haben es da auf Glück und die Freiheit der Rechtschaffenen abgesehen. Daneben ist ein anderes Feindbild, das bei den Konservativen manchmal auftaucht, fast beruhigend rational: das der 68er. Eine Generation linker Netzwerker habe sich in die Stellwerke der Gesellschaft gewunden, betreibe von ihren Pöstchen in den Medienhäusern aus die Gehirnwäsche der Bevölkerung, habe die bürgerlichen Parteien unterwandert und die gesellschaftlichen Zielvorgaben pervertiert: mit Wahnsinnsprojekten wie Rücksicht auf Minderheiten oder Schutz des Klimas.
Wo es keine autoritären Vorgaben eines zensierenden Staates in Sachen Geschichtsschreibung gibt, kann sich ein anderes Szenario entfalten: Jeder darf nach Belieben fast alles verbreiten, Wahrheit ist das, was von Gleichgesinnten Zustimmung bringt. Das ist der Preis der freien Gesellschaft. Umso wichtiger ist der sowohl seriöse wie auch packende Umgang mit Zeitgeschichte – und die zweiteilige Dokumentation „1968 – Die globale Revolte“ zeigt, wie man vernünftig aufbereitet, was den einen neu ist und den anderen sattsam bekannt zu sein scheint.
Vietnamkrieg und Rassismus
Insgesamt 193 Minuten Lauflänge – das scheint ein steiler Anspruch an die Geduld der Zuschauer. Aber Don Kents Dokumentation hat gleich mehrere Länder im Blick, die USA, Deutschland, Frankreich, Italien und Japan, und arbeitet große Entwicklungslinien heraus. Darum beginnt der Zweiteiler in den frühen Sechzigern in den USA, mit dem Kampf der Afroamerikaner um ihre Bürgerrechte. Die Bilder von weißen Polizisten, die friedliche schwarze Demonstranten verprügeln, gehen um die Welt und untergraben den Anspruch der USA, die moralische Führungsmacht des Westens zu sein. Der Vietnamkrieg ruiniert dann für viele nicht nur junge Menschen den Nimbus der USA noch viel mehr.
Kent montiert Interviews mit Zeitzeugen und Aufnahmen von damals anders als manche Kollegen, die augenfällige Virtuosität zeigen. Erst nach einer Weile merkt man, wie sicher die Montage gehandhabt wird, wie wach sie einen hält, durch stetigen Wechsel der Schwerpunkte und Perspektiven.
Aus Protest wird Terrorrismus
Zum einen macht der Zweiteiler verständlich, wie berechtigt der Protest und wie überfällig eine radikale Debatte war. Andererseits weist er klar auf die Verblendungen von damals, vor allem auf die Verklärung des real existierenden Sozialismus.
Der zweite Film, „Die Explosion“ zeichnet nach, wie aus den Protestbewegungen ein Terrorismus hervorgeht, dessen Protagonisten Guerillabewegungen in Lateinamerika als Vorbild sehen. Kent sucht nicht nach Entschuldigungen, aber er betont eine gewisse Unvermeidlichkeit der Entwicklung. Zu weit liegen die Hoffnungen und Ansprüche der Protestierenden und die reale Veränderungsgeschwindigkeit der Gesellschaft auseinander. Die Radikalisierung einiger wird nicht zur Denunziation aller Ziele und genutzt, aber die falsche Solidarität des Umfelds mit den Abgedrifteten wird auch nicht ausgeblendet.
Manche der Protestler von damals, wie die Künstlerin Ohki Seiko aus Japan, halten an alten Ideen fest, manche haben ihre Ansichten radikal gewandelt, allen kann man gut zuhören. Dabei kommt einem der Gedanke, wie ein Film über die Wutbürger von heute einmal aussehen wird: wie die einmal ihre Angst vor Impfspritzen, Chemtrails und Corona-Masken reflektieren werden.
Ausstrahlung: Arte, 26. Mai 2020, ab 21.45 Uhr
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