Die Markt & Service Gesellschaft der Caritas eröffnet nächstes Jahr ein Boardinghouse mit 124 Zimmern – ein E-Mobil ist im Mietpreis inklusive. 40 Prozent der Belegschaft sind Menschen mit Behinderung.

Stuttgart - Deutschlandpremiere in Stuttgart: Die gemeinnützige Caritas-Tochter Markt & Service gGmbh wird im Frühjahr 2019 das erste Boarding-house mit Drei-Sterne-Standard eröffnen, das zu einem erheblichen Teil von Menschen mit Behinderung betrieben wird. Ein Dutzend der rund 35 Mitarbeiter erhält die Chance, statt in einer Werkstatt für Behinderte zu arbeiten, sich im ersten Arbeitsmarkt zu bewähren. Sinnigerweise erhält das Projekt den (bereits geschützten) Namen „The Neighbours Stuttgart“. „Damit wollen wir den vor allem in der Nachbarschaft verankerten Hilfegedanken zum Ausdruck bringen“, sagt Geschäftsführer Gerhard Sohst.

 

Die Zimmer sollen längefristig vermietet werden

Das sechsstöckige Gebäude hat die Form eines Bumerangs, um das Grundstück an der Wernerstraße nahe dem Bahnhof Feuerbach und dem Bosch-Werk maximal auszunützen. Es verfügt über 124 Apartments mit Größen von 22 bis 42 Quadratmetern, die wie Hotelzimmer vergeben und auch über Buchungsportale angeboten werden. Zwei Zimmer auf jedem Stock können verbunden und damit auch Familien angeboten werden. Ziele seien die längerfristige Vermietung bis zu einem halben Jahr, sagt Sohst, sowie feste Vereinbarungen mit Unternehmen, die dort Praktikanten, Lehrlinge und ausländische Mitarbeiter unterbringen können. Die Nähe zu großen Firmen und der Umstand, dass sich in diesem Teil Feuerbachs keine Konkurrenz tummelt, ermunterte das Unternehmen, sich dort zu engagieren.

Im Erdgeschoss des Hauses, das Beschäftigte bei Bosch auf dem Weg zur Arbeit und nach Hause passieren, wird es auch ein Café für Gäste und für Passanten geben. Das Grundstück ist derzeit eine Brache, auf dem sich noch eine Kneipe befindet, die aber abgerissen werde, so Sohst. Das Projekt wird am 1. März im Bezirksbeirat Feuerbach präsentiert, man hofft nach langer Wartezeit auf die Baugenehmigung Ende Februar.

Der Investor will unerkannt bleiben

Das Projekt im zweistelligen Millionen-Euro-Bereich wird von Investoren finanziert, die im Hintergrund bleiben wollen. Die gemeinnützige Betreiberin investiert selbst eine sechsstellige Summe für den Innenausbau. Unterstützung gewährt der Kommunalverband für Jugend und Soziales (KVSJ) Baden-Württemberg), der auch die Idee für das Boardinghouse hatte. Er hilft mehr als 900 000 schwerbehinderten Menschen und rund zwei Millionen Kindern und Jugendlichen, ihre Lebensräume und -träume zu gestalten. Bezahlt werde das Personal nach dem Tarif des Hotel- und Gaststättenverbands, sagt Sohst.

Die Markt & Service-Gesellschaft wird von Unternehmen mit Erfahrung in Integrationsmodellen und einem Projektsteuerer aus der Hotelbranche beraten. Die Kalkulation sei seriös, selbst bei einer eher durchschnittlichen Auslastung von nur 65 Prozent trage sich das Boardinghouse bereits. Die Erwartungen, welche die Betreiber haben, liegen aber deutlich darüber. Aus Bundesmitteln fließen 120 Millionen Euro in innovative Projekte, davon 20 Millionen in solche im Land – und ein noch nicht exakt festgelegter Betrag ins Caritasprojekt. Eine Förderzusage erwartet Sohst auch von der Aktion Mensch.

Der Geschäftsführer soll schnell eingestellt werden

Die Mitarbeiter mit Behinderung sollen in allen Bereichen, von der Rezeption über die Apartmentreinigung und die Frühstücksküche bis zum Café-Betrieb, entsprechend ihren Fähigkeiten eingesetzt werden. Die Mitarbeitersuche beginnt in Kürze. Mit Kandidaten für die Geschäftsführung wird schon verhandelt, der Chef soll bereits im Herbst mit der Vorbereitung beginnen. Die Beschäftigten werden in Einrichtungen im Schwarzwald und am Bodensee geschult.

Aus der Not, für 124 Apartments nur 15 Tiefgaragenplätze ausweisen zu können, hat der Betreiber mit seinem ausschließlich auf Elektromobilität basierenden Konzept eine Tugend gemacht. Jeder Stellplatz erhält einen Stromanschluss. Den Mietern werden – das ist im Apartmentpreis berücksichtigt – bis zu sieben Elektrofahrräder, zwei Roller und drei Autos zur Verfügung stehen. Sohst ist mit Daimler im Gespräch, womöglich kann er die Investitionskosten durch eine Fahrzeugspende noch einmal senken. Mit diesem Konzept nimmt die Gesellschaft auch am Innovationswettbewerb „Mobil gewinnt“ des Bundes teil. Das „Neighbours Stuttgart“ gehört bereits zu den 26 Siegern, man erwartet, dass die Höhe der Fördersumme in Kürze mitgeteilt wird.

Die Stadt hat keinen Fördertopf

Sohst bemüht sich auch um Unterstützung beim Land. Die Stadt Stuttgart, unter dem grünen OB Fritz Kuhn bemüht, die Energiewende etwa durch Zuschüsse an Taxiunternehmen herbeizuführen, hat ihm allerdings einen Korb gegeben. Es gebe keinen passenden Fördertopf. „Wir geben die Hoffnung aber nicht auf, den Gemeinderat noch von unserem Projekt zu überzeugen“, so der Geschäftsführer.

CAP-Märkte sind mehr als nur Nahversorger

Die Markt und Service gGmbh der Caritas betreibt seit vielen Jahren in Ober- und Untertürkheim zwei CAP-Lebensmittelmärkte, deren Leitgedanke die Inklusion ist. Dort haben 40 Prozent der etwa 45 Beschäftigten eine Behinderung. Auf dem normalen Arbeitsmarkt haben sie kaum Chancen auf eine Stelle. Die Märkte gerieten jüngst in die Schlagzeilen, weil die städtische Wirtschaftsförderung im Zusammenhang mit der Erstellung eines Masterplans zur Wiederbelebung des Stadtteilkerns in Untertürkheim die Ansiedlung eines Aldi-Markts im Postamt in unmittelbarer Nähe zum CAP-Markt vorantreiben wollte.

Eine von ihr in Auftrag gegebene, dann aber geheim gehaltene Expertise zur Marktverträglichkeit geht zwar davon aus, dass 800 Quadratmeter Aldi-Fläche den Einkaufsplatz Untertürkheim stärken würden, aber sie macht auch deutlich, dass dies ziemlich sicher das Aus für die CAP-Märkte in Unter- und Obertürkheim bedeuten würde. Besonders für Obertürkheim wäre eine Schließung fatal, ist doch der Laden der einzige im Zentrum. Er bietet auch einen Lieferservice für mobilitätseingeschränkte Menschen und hat mit seinen Mahlzeitenangeboten im Foyer längst die Funktion eines Stadtteilzentrums übernommen. Bis zur Öffnung 2004 hatte es dort gar keinen Vollversorger mehr gegeben. „Der aufgezeigte Zielkonflikt kann nicht gelöst werden“, heißt es im Gutachten. Wenn Aldi öffne, schließen die CAP-Märkte mit großer Sicherheit, da 30 Prozent weniger Umsatz nicht kompensiert werden könnten, so Geschäftsführer Gerhard Sohst.

Der Gemeinderat hat zwar sehr deutlich erklärt, dass er keinen Aldi-Markt an dieser Stelle will und diesem die Fläche für die nötigen Parkplätze nicht verkaufen wird. Vor Ort wird die Ratsentscheidung aber immer wieder durch Bezirkspolitiker und städtische Mitarbeiter angezweifelt. Die Caritas teilt deshalb die Einschätzung der CAP-Markt-Betreiber, ein stabiles drittes Standbein mit dem Boardinghouse-Konzept könne der Gesellschaft nur guttun.