Im Odenwalddorf Hettingen baute Egon Eiermann unmittelbar nach Kriegsende eine Modellsiedlung für Vertriebene aus dem deutschen Osten. Jetzt ist aus einem der Häuser ein kleines Museum entstanden.

Buchen - 1946. Der Herr Pfarrer krempelt die Ärmel seiner Soutane hoch und gründet eine Baugenossenschaft. Heinrich Magnani, Sohn eines italienischen Arbeitsmigranten und katholischer Hirte im Odenwald-Dorf Hettingen, hat beschlossen etwas gegen die Flüchtlingskrise zu tun. Rund fünfhundert Heimatvertriebene hat es nach Kriegsende 1945 aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten in die 1500-SeelenGemeinde verschlagen, die – in Ermangelung von Sporthallen, Schulzentren und Container-Provisorien – direkt bei den Familien im Dorf untergebracht werden. Sozialer Sprengstoff, erkennt Magnani, den es durch den Bau neuer Häuser schleunigst zu entschärfen gilt. Für sein Projekt „Neue Heimat“ gewinnt der umtriebige Geistliche keinen Geringeren als Egon Eiermann, der sich aus dem zerbombten Berlin in seine Vaterstadt Buchen im Odenwald gerettet hat.

 

Eiermann, nachmals einer der wichtigsten Vertreter der deutschen Nachkriegsmoderne, bekannt als Architekt der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche und – besonders aus Stuttgarter Perspektive – der IBM-Hauptverwaltung in Vaihingen, plant eine kleine Siedlung auf einem Hanggrundstück oberhalb von Hettingen. Nicht alles wird realisiert, aber es entstehen sieben leicht gegeneinander versetzte Doppelhäuser für Zuzügler und bedürftige Einheimische, größtenteils in Eigenarbeit von neuen und alten Hettingern gemeinsam errichtet. Das soll nicht nur die Kosten niedrig halten, sondern auch den sozialen Zusammenhalt stärken – das Ganze ein Vorzeigeprojekt gelungener Integration, wie man heute sagen würde, dem sogar der Papst im fernen Rom seinen Segen spendet.

2018. Aus einem der vierzehn Häuser ist ein kleines Museum geworden: das Eiermann-Magnani-Haus in Buchen-Hettingen. Als Dokument der Zeitgeschichte erinnert es an die Wirren der Nachkriegstage, als rund 14 Millionen Flüchtlinge im Westen eintrafen, wo ebenfalls Not herrschte und alles in Trümmern lag. „Wir müssen ein Herz haben für diese Millionen Menschen“, predigte Heinrich Magnani seiner Gemeinde. Und obwohl die Idee zu dem Museum lange vor der aktuellen Flüchtlingswelle geboren wurde, könne es auch heute ein Vorbild für „den menschlichen Umgang mit Leuten sein, die man sich nicht unbedingt hergewünscht hat“, meint Thomas Schnabel vom Haus der Geschichte Baden-Württemberg.

Nicht nur „Star-Denkmale“ verdienen es, erhalten zu werden

Das große Museum in Stuttgart hat das kleine Museum im Odenwald unter seine Fittiche genommen und die Ausstellung konzipiert, während die in Ludwigsburg beheimatete Wüstenrot Stiftung das Geld gab und das Häuschen mit wissenschaftlicher Akribie und nach allen Regeln der denkmalpflegerischen Kunst instandsetzen ließ. Philip Kurz, Geschäftsführer der auf die Erhaltung von Bauten der Moderne spezialisierten Stiftung, folgte mit diesem Projekt seinem Credo, dass nicht nur „Star-Denkmale“ Aufmerksamkeit verdienen, sondern auch unscheinbarere Architektur, eben weil sie vom Alltag der „kleinen Leute“ kündet.

Eine „Heimatvertriebenen-Puppenstube“ sollte aus dem Eiermann-Magnani-Haus aber nicht werden. Zwar hat der Backsteinbau die Jahrzehnte seit seiner Erbauung nahezu unverändert überlebt – im Gegensatz zu den anderen Häusern der Modellsiedlung, die mit allem, was die Baumärkte so hergeben, bis zur Unkenntlichkeit umgemodelt wurden. Doch wie immer folgte Wüstenrot bei der Instandsetzung dem Prinzip, dass Spuren der Zeit und der Bewohner zu einem Denkmal gehören, eine Rückführung auf irgendeinen „Originalzustand“ also nicht das Ziel sein kann. Blümchentapeten, Stragula-Böden (eine billige Linoleum-Imitation mit Perserteppichmuster) und farbig angestrichene Dielen durften, abgewetzt wie sie sind, darum bleiben, die später eingesetzten Fenster dagegen wurden gegen die Kastenfenster aus der Bauzeit ausgetauscht, die sich noch im Schuppen fanden und repariert werden konnten.

Raumwunder auf knapp bemessener Grundfläche

Weichen mussten auch nachträglich eingezogene Wände, um wieder erlebbar zu machen, wie Eiermann mit intelligenten Grundrissen das Raumwunder gelungen war, trotz äußerster Sparsamkeit und begrenzten Abmessungen großzügige, offene Wohnbereiche zu schaffen und sie mit Einbaumöbeln funktional auszustatten.

Der Architekt folgte damit seiner 1946 in einem Vortrag bekundeten Auffassung, dass es verkehrt gewesen wäre, „Fehlinvestitionen in der Art zu machen, dass jetzt notdürftige Bauten, die später ersetzt werden müssen, erstellt werden“. Wiedererstanden ist auch die Rampe, über die auf Handkarren Holz, Kohle und Kartoffeln ins Haus befördert wurden, ebenso wie das zur Selbstversorgung angelegte Nutzgärtchen, nur dass dort jetzt Dahlien wachsen, weil Salatköpfe den ehrenamtlichen Museumsbetreibern des Vereins Eiermann-Magnani-Dokumentationsstätte zu viel Arbeit machen würden.

Zeugnisse eines bescheidenen Lebens

Oben in einem der Schlafzimmer hängt ein Schwarz-Weiß-Foto von Anton und Anna Hutter, die aus Böhmen geflüchtet waren und früher hier wohnten. In einer großen Vitrine sind Gegenstände aus ihrem Besitz versammelt: Andachtsbilder, Wallfahrtskerzen, ein Henkelmann, Gartengeräte, eine Kaffeemühle, eine Audiokassette des Jesuitenpaters Johannes Leppich, der in den Sechzigern mit seinen cholerischen Predigten die Massen begeisterte – Zeugnisse eines bescheidenen, frommen Lebens, zu dem auch ein schlichtes Kreuz, geschnitzt aus dem Holz der alten Hettinger Orgelempore gehörte. Damit hatte Pfarrer Magnani alle Neuankömmlinge aus dem Osten zu Weihnachten 1946 beschenkt: als Willkommensgruß und – sehr im Unterschied zu den kürzlich flächendeckend über bayerische Amtsstuben ausgestreuten CSU-Kreuzen – Zeichen christlicher Nächstenliebe.