Die Möbel sind noch aus den Sechzigern, die Kunden über siebzig: eine Zeitreise in den Haarsalon der Brüder Erich und Helmut Hahn auf der Ostalb. Eine Reportage aus unserer Reihe "Archivschätze"

Reportage: Robin Szuttor (szu)

Dieser Text erschien erstmals am 22. Januar 2013. In unserer Reihe "Archivschätze" blicken wir zurück auf herausragende Reportagen und beantworten am Ende die Frage, was in der Zwischenzeit passiert ist. 

 

Oberkochen - Die Taschenlampe mit dem eingebauten Radio war mal der neueste Schrei. Früher spielte es Hits von Freddy, Gus Backus, Chris Roberts. Begleitmelodien zu Fassonschnitten und Föhnwellen. Heute kommt im Grunde gar keine Musik mehr raus, das Ding rauscht nur noch vor sich hin. Ein neues würde sich nicht lohnen, meint Erich Hahn, der alte Figaro.

Mit dem zerzausten Pinsel aus den Sechzigern Schaum in den Nacken gestrichen, das Rasiermesser aus den Siebzigern, scharf wie eh und je,   angelegt: auf dem Friseurstuhl sitzt Herr Schmidt, mit seinen 75 Jahren „auch ein ganz alter Denger“, wie er sagt. Er hat immer noch volles Haar, seine Frisur ist noch die gleiche wie nach der Geburt. Nur weiß ist Herr Schmidt geworden mit den Jahren. „Aber deswegen sind die Haare auch nicht schwerer zu schneiden“, sagt sein Friseur. Hahn musste sich nie umstellen: durchstufen, kräftig scheiteln, hinten ausrasieren. Schmidt wohnt zwei Straßen weiter, seit 57 Jahren ist er treuer Kunde – mit zwei, drei Ausnahmen, damals während der Bundeswehrzeit. Bis zur Rente stand der Metzger bei Tengelmann an der Fleischtheke. Am nächsten Tag bekommt er die Goldene Meisternadel verliehen: „Da muss man sich ja ein bisschen rausputzen.“

Fertig. Der Handspiegel: „Recht so, Otto?“ – „Prima!“ – „So kannsch sprenga, morga.“ Erich Hahn kehrt noch schnell die weißgrauen Haarfetzen zusammen, andere Farben fallen hier nicht mehr an. „Wart, i gäbb dir no a Kalenderle mit.“

Ihren Ruhestand haben sie irgendwie verpasst

Der Salon Hahn liegt in einem ruhigen Wohngebiet der 8000-köpfigen Ostalbgemeinde Oberkochen. Seit einer Ewigkeit schneiden hier die Hahn-Brüder: der 84-jährige Erich und der zwei Jahre jüngere Helmut. Ihren Ruhestand haben sie irgendwie verpasst. Eigentlich wollten sie den Salon langsam auslaufen lassen, diese Phase zieht sich jetzt schon zwei Jahrzehnte hin.

Die Schaufensterfotografien mit Frisuren, wie man sie früher schätzte, sind bläulich verblichen. Das Friseurschild, das auf dem Gehweg immer so schön in der Sonne blitzte, hing schon lang nicht mehr draußen. Bloß keine neuen Kunden mehr. Vor einem Jahr verirrte sich ein junger Mann in den Salon, trat dann aber – Gott sei Dank – gleich fluchtartig den Rückzug an. Hahns Stammkunden finden auch ohne das Schild her. Es werden immer weniger, er ist ständig auf Beerdigungen. „Jedes Jahr sterben uns 20, 30 weg.“

Sie seien beide noch fit, sagt Erich Hahn. Ab und zu setzt er sich beim Schneiden auf einen Barhocker, die Bandscheibe macht ihm zu schaffen, in seinem Alter sei das schwer zu operieren. Die Feinmotorik funktioniert noch wunderbar, nur läuft die Schere nicht mehr ganz so flink in der Hand. Hier hat es keiner eilig. Der Salon Hahn ist ein Tempel der Entschleunigung.

Geöffnet ist mittwochs und donnerstags, manchmal auch freitagmorgens. Ein Schnitt kostet zwölf Euro, egal welcher. Den Preis aufschlagen lohne sich nicht mehr, meint Erich Hahn. Termine werden keine vergeben. Einer der Brüder ist meistens da. Wenn beide wegmüssen, hängen sie halt die „Heute geschlossen“-Tafel hin.

Erich Hahn begann 1946 seine Friseurlehre in Aalen. Nach Feierabend frisierte er daheim bis in  die Nacht Oberkochener Köpfe, sein Bruder guckte sich die Handgriffe ab, ging später zur Meisterschule nach Hamburg. Arbeit gab’s genug damals, „nach dem Krieg ist ja im Ort kein Friseur mehr übrig geblieben“. Mitte der Fünfziger eröffneten sie ihren Salon im Elternhaus. Der Vater war Heizer im Kaltwalzwerk, die Söhne dufteten nach Tabac und Brisk. Das Geschäft lief glänzend, auch wegen der Leute vom Zeiss-Werk. Die kamen einfach während der Arbeitszeit rüber. Einer nahm immer die zusammengekehrten Zotteln mit für seinen Rohbau – mit Haaren drin reißt der Beton nicht so schnell.

Früher hatten sie zwei Wochen Betriebsferien, reisten mit der örtlichen Volksbank in die Normandie, nach Malta, Zypern und wer weiß wohin. Früher waren der Mittwoch und der Samstag reine Rasiertage, jeder hatte sein mit Namen versehenes Seifenschälchen bei Hahn stehen.

Der Boden ist halbkreisförmig durchgewetzt

Der ockerbraune Laminatboden ist noch der erste. Um die Frisierstühle ist er halbkreisförmig bis auf den Grund durchgewetzt – die Lebensbahnen der beiden Brüder, könnte man pathetisch sagen. Zeitweise hatten sie fünf Angestellte, da herrschte ein Betrieb wie im Bienenstock, von wegen Entschleunigung. Die Herren gingen zu Erich, Helmut machte nebenan den Oberkochener Damen die Haare schön, ondulierte, zauberte ihnen Wasserwellen aufs Haupt, wickelte ihnen saure Dauerwellen in die Schnittlauchlocken, setzte sie unter die Schwarzkopf-Hauben, Typ „Rapid“, die heute noch tadellos funktionieren. Seit zehn Jahren ist der Damensalon zu. „Bei den Frauen muss man immer auf dem neuesten Stand bleiben, bei den Männern ist immer alles gleich geblieben“, sagt Helmut Hahn. Das Edelweiß aus dem Garten, das er „zur Zierde“ in ein Väschen auf das Waschbecken gestellt hat, hätte bei den Damen sicher mehr Anklang gefunden.

Ein Frisierstuhl aus den Anfangsjahren steht noch da. Das ausgeklügelte Wendepolster garantiert, dass sich der Kunde nicht auf den vorgewärmten Platz seines Vorsitzers niederlassen muss. Wo findet man heute noch solche Raffinessen? Auf dem museumsreifen Kindersitz stellt man sich unwillkürlich Jungs mit Matrosenanzügen, Mädchen mit Rüschenkleidchen und Lackschuhen vor. Ein Bekannter hat Hahn immer wieder gedrängt, die Sessel, an denen seitlich schon der Füllstoff rauslugt, doch mal richten zu lassen. – „Peter, i steck in den Lada nix mehr nei“.

Im Salon Hahn fragt man Kunden nicht nach ihren Wünschen. Man fragt nicht einmal: „Wie immer?“ Man fängt einfach an zu schneiden. „Wenn jemand eine neue Frisur will, dann sagt er’s schon.“ Erich Hahn schneidet Herrn Maul mit der Effilierschere, Helmut Hahn legt Herrn Neuhäuser den Kreppkragen an. Alte Kunden. Auf der einen Seite unterhält man sich über eine Arztpraxis: „Isch die Schwarz no dranna, wo die Termine annimmt?“ Auf der anderen Seite geht es um die Jagd: „Dem isch a ganzes Rudel Wildsäu onda naus.“ Und manchmal, wenn mal nicht geredet wird, wenn das Radio ganz schweigt und nur das Klacken der Schere, das Schaben des Rasiermessers, das Klatschen von Kölnisch Wasser in die Handflächen zu   hören ist, während draußen fette Flocken vom Himmel schneien, hat der Salon etwas von der Weltverlorenheit eines Zen-Klosters.

Helmut Hahn drückt Herrn Neuhäusers Haare mit den Händen glatt wie eine Kapuze. Ein Spritzer Seborin-Haarwasser, der Klassiker. „Und sonsch geht’s gut?“ – „Ja. Eich au?“ – „Ja.“ – „Sagsch an Gruß an dei Frau“ – „Du au.“ Am anderen Stuhl tritt Erich Hahn aufs Gummipedal und lässt den Gast zurück auf die Erde sinken. Den Umhang vorsichtig abnehmen, Haare aus dem Nacken pinseln. Der Handspiegel: „Gut?“ – „Wonderbar.“

Hinter einem schweren Wollvorhang hängen dezent die Frisierumhänge in Lila, Schwarz, Orange. Die Tapete ist ein bräunlich ornamentales Designwunderwerk. Die robusten Kittel der Altmeister haben die gleiche Farbe – und stammen aus der gleichen Zeit. Sie hätten auch gut in ein DDR-Landmaschinenkombinat gepasst.

Über dem großen Wandspiegel kann man Schwarz-Weiß-Bilder mit duften Schnitten von früher bewundern, aus Friseurzeitungen ausgeschnitten, zu Collagen verarbeitet und gerahmt. Ein Foto von Michael Stich, dem Tennisspieler, ist auch dabei: ein flotter Look mit Mittelscheitel – „so wollten früher viele aussehen“.

Albverein, Naturfreunde und der Sängerbund

Ein kleines Ölgemälde zeigt den Volkmarsberg über dem Kochertal mit seinen weiten Wäldern und Wacholderheiden. Hier arbeitete Erich Hahn jahrzehntelang als Hüttenwart. Früher war er Mitglied in dreißig Vereinen, als Friseur im Ort konnte man sich kaum entziehen. Jetzt konzentriert er sich auf den Albverein, die Naturfreunde und den Sängerbund. Donnerstags macht er immer um halb vier Feierabend. Bei der Probe des Altmeisterchors braucht man seine Stimme.

Herr Gillmeier sitzt schon auf der Wartebank. „Gerhard, suchsch a bestimmte Zeitung?“ – „Ja, oine mit nackte Fraua dren.“ Gillmeier kommt schon seit sechzig Jahren. Er war Modell bei Erichs ersten Schnittversuchen. Damals noch mit hellblonden Haaren, die er seit seiner Jungvolkzeit zurückgekämmt und hinten kurz trägt. Als der Krieg zu Ende ging, war Gillmeier zwölf. Er hat noch Hunger kennengelernt. Dass sein Enkel einmal in China studieren und er ihm regelmäßig E-Mails nach Hinterasien schreiben würde, hätte er sich auch nicht träumen lassen.

Dass aus den Kindern keine Coiffeure werden, war den Hahn-Brüdern schon früh klar. Eine Tochter ist Lehrerin im Schwarzwald, die andere Erzieherin in Regensburg. Helmuts Sohn schafft als Ingenieur bei Kärcher. Es gibt schon Zukunftspläne: Aus dem Herrensalon soll mal eine Garage werden, der Damensalon zum Hausflur. Nächstes Jahr öffne er vielleicht nur noch einen Tag. Oder er höre ganz auf und bereite sich aufs Sterben vor, sagt Erich Hahn. Er arbeitet nicht wegen des Geldes. Für ihn ist es ein Vergnügen. Sein Salon ist Treffpunkt, so wie der Ochsen und das TSV-Vereinsheim unten im Dorf – nur ohne Viertele. „Im Salon bin ich lustig und fröhlich, daheim bei meiner Frau weniger“, sagt Erich Hahn. Muss man extra erklären, dass er Spaß macht?

Herr Glatting ist 77, ein Donauschwabe in groß karierter Wollhose und burgunderfarbenen Lederstiefeletten. Seine Familie war, erzählt er, schon seit 1750 im Banat ansässig, bis sie dann vor dem Tyrannen Ceausescu floh. Dem Ausreiseantrag folgte die Verbannung in die rumänische Steppe. „Mit leerem Magen lernt man denken“, sagt Herr Glatting. Er hat Philosophie studiert und das Schneiderhandwerk gelernt. Und Akkordeon. Sein Repertoire umfasst Volkslieder, Operettenmelodien, alte Schlager, demnächst tritt er im Samariterstift auf. Helmut Hahn massiert ihm die Kopfhaut, glättet das Haar mit der großen Bürste. Der Handspiegel: „Danke, schon recht.“

„Jetzt muss i bahna“, sagt Erich Hahn. Der Gehweg liegt voll Schnee. Danach macht er Mittag, seine Frau hat Bratwürste, Sauerkraut und Knöpfle gekocht. Dann legt er sich ein Stündchen hin. Mal sehen, ob am Nachmittag einer vorbeikommt. Wenn nicht, ist auch nicht schlimm.

Was ist seitdem passiert? 

Erich Hahn starb im November 2015, er wurde 87. Sein jüngerer Bruder Helmut machte noch zwei, drei Jahre weiter und hielt die Oberkochener Infobörse Friseursalon am Laufen. Indes dünnte die Kundschaft durch Tod immer weiter aus, und Helmut Hahn war dann auch nicht mehr fitteste. Schließlich beendete er das Salon-Kapitel, nahm die wichtigsten Utensilien mit und schnitt, meistens freitags, noch den allertreuesten Männern die Haare in einem kleinen Raum seines Wohnhauses. Er ist Anfang dieses Jahres im Alter von 92 gestorben – es war ein Samstag, am Abend zuvor hatte er noch zwei Kunden frisiert. Ein Großteil der Salon-Einrichtung steht heute im Neu-Ulmer Friseurmuseum. So bleibt die Arbeit der Brüder Hahn über ihren Tod hinaus lebendig.