Die Erdbebenkatastrophe in der Türkei und Syrien liegt ein Jahr zurück. Viele der Betroffenen leiden bis heute darunter – auch ihre in Deutschland lebenden Verwandten und Freunde. Doch es fehlt an psychologischer Betreuung.

Stadtleben/Stadtkultur: Jan Sellner (jse)

Es ist eingetreten, was zu erwarten war: Das Thema ist aus den Schlagzeilen verschwunden. Nicht sofort, jedoch nach und nach. Andere Krisen und Großereignisse haben es verdrängt. So empfindet es der Botnanger Mesut Hos, wenn er an die Erdbebenkatastrophe vom 6. Februar 2023 und den Folgetagen in seiner früheren Heimat im Südosten der Türkei denkt. Jetzt zum Jahrestag kehrt sie in die Nachrichten und damit auch ins öffentliche Bewusstsein zurück. Doch für wie lange?

 

Mit Mesut Hos hatte unsere Redaktion kurze Zeit nach den verheerenden Erdstößen gesprochen, die weit mehr als 50 000 Menschen in der Türkei und im Norden Syriens das Leben kosteten. Der 52-Jährige schilderte die Situation in Malatya, einer 800 000-Einwohner-Stadt in Ostanatolien. Dort ist er aufgewachsen, dort leben seine Eltern und andere Familienangehörige. „Die Straßen meiner Kindheit existieren nicht mehr“, erzählte er traurig. Hos, der seit 1992 in Deutschland lebt, seit 2000 deutscher Staatsbürger ist und bei Mahle Prüfstände betreut, berichtete damals auch von der Idee, seine durch das Erdbeben obdachlos gewordenen Eltern vorübergehend zu sich nach Stuttgart-Botnang zu holen, wo er mit seiner kleinen Familie lebt.

„Bei jedem neuen Wackeln haben die Menschen Angst“

Mit diesem Vorschlag ging er auf Landtagspräsidentin Muhterem Aras zu, die das aufgriff und sich zusammen mit anderen bei der Bundesregierung für Visumerleichterungen für Erdbebenopfer einsetzte. Mit Erfolg. Betroffene konnten unter bestimmten Voraussetzungen zunächst für drei Monate zu Verwandten nach Deutschland kommen. Später wurde die Frist verlängert. Inzwischen sind die Menschen nach Einschätzung der Landtagspräsidentin zurückgekehrt; allzu viele waren es ohnehin nicht. Nach Auskunft des Auswärtigen Amtes vom vergangenen Mai wurden bundesweit rund 13 200 Visa erteilt, darunter etwa 1550 für syrische Staatsangehörige.

In ihrer Heimat bietet sich den Menschen jedoch auch ein Jahr später vielfach noch immer ein Bild der Zerstörung. Die Stadt Malatya sei noch nicht wieder aufgebaut, berichtet Mesut Hos. Viele Menschen seien noch immer notdürftig in Containern oder Zelten untergebracht. Seine betagten Eltern sind inzwischen wieder in das Hochhaus eingezogen, in dem sie lebten und das sie nach dem Erdbeben aus Sicherheitsgründen verlassen mussten. Sobald es wärmer wird, wollen sie wieder in das kleine Häuschen bei Tunceli/Dêrsım aufs Land ziehen, in dem sie Zuflucht gefunden hatten. Den langen Weg nach Deutschland hatten sie am Ende doch gescheut. Doch die Angst ist geblieben. „Es gibt ständig neue Beben, oft auch schwere“, sagt Mesut Hos. „Die Menschen fühlen sich unsicher. Wenn es wieder wackelt, haben sie Angst.“ Der Botnanger hält engen Kontakt zu seinen Eltern. Im Sommer war er mit Frau und Tochter vier Wochen dort. Aus Platzgründen schliefen sie im Zelt im Garten.

Jan Ilhan Kizilhan, Professor für Psychologie und Spezialist für Transkulturelle Psychiatrie und Traumatologie an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg, bestätigt diese Eindrücke: „Mit jedem neuen Beben werden die Menschen retraumatisiert.“ Es genüge oft schon, wenn ein schwerer Lkw durch die Straßen fahre.

Unter seiner Leitung wurden in der stark betroffenen Provinzhauptstadt Adiyaman vier Monate nach dem großen Erdbeben 310 Personen im Alter zwischen 18 und 93 Jahren befragt. Das Ergebnis: „37 Prozent von ihnen weisen eine posttraumatische Belastungsstörung auf und müssten klinisch behandelt werden.“ Infolge der Naturkatastrophe würden die Menschen an Angstzuständen und Albträumen leiden und seien erheblichen psychischen Belastungen ausgesetzt, erklärt Kizilhan. Die erhobenen Zahlen würden deutlich über denen von anderen Erdbebenkatastrophen liegen.

Türkische Helfer waren zur Fortbildung in Baden-Württemberg

Um die Traumata zu überwinden, sei es wichtig, „dass die Menschen zügig wieder ein festes Zuhause bekommen und der Wiederaufbau erkennbar voranschreitet“, betont der Psychologe. 82 Prozent der Befragten hätten bei dem Erdbeben ihr Haus oder ihre Wohnung verloren. „Die Menschen brauchen dringend ein stabiles Umfeld“, sagt Kizilhan. „Eine andere wichtige Voraussetzung ist die klinische Infrastruktur.“ Auch daran mangle es. Seine Forderung: „Die türkische Regierung muss die Gesundheitsversorgung dringend verbessern, vor allem die psychologische Versorgung.“

Er selbst versucht, dazu einen Beitrag zu leisten. Im April waren 22 türkische Sozialarbeiter, Psychologen und Psychiater zu einer Fortbildung in Baden-Württemberg. „Diese Menschen leisten Unglaubliches“, lobt Kizilhan. Für Mai planen er und sein Team, in drei türkischen Städten – Adiyaman, Malatiya und Hatay – Fortbildungen anzubieten, auch um mehr Fachkräfte zu gewinnen. Außerdem sei es wichtig, sich um in Deutschland lebende Verwandte zu kümmern. „Viele haben bei der Katastrophe Familienmitglieder oder Freunde verloren und leiden unter einer erheblichen Belastung. Wir müssen diese Menschen dringend auffangen“, sagt der Traumaexperte.

Wird das Erdbeben politisch instrumentalisiert?

Landtagspräsidentin Muhterem Aras spricht in diesem Zusammenhang von der Notwendigkeit, „die Seele zu heilen“. Jüngst traf sie einen Geschäftsmann, der aus Antakya stammt. „Die Stadt war eine Perle – liberal, multireligiös, schön“, weiß Aras aus eigener Anschauung. Heute liegt sie in Trümmern: „Es blutet einem das Herz“, sagt sie. Den Geschäftsmann traf sie als „gebrochenen Mann an“, weil der Verlust an Menschen, anders als das Geld, unersetzlich sei. Zugleich beobachtet Aras, dass es immer noch an staatlicher Unterstützung fehlt. Das habe wohl auch damit zu tun, dass die Stadt Antakya sozialdemokratisch regiert sei. Im März stehen Kommunalwahlen an. Wenn die Leute die AKP von Staatspräsident Erdogan wählten, käme auch Hilfe, heiße es dort. „Das Erdbeben wird politisch instrumentalisiert“, kritisiert Aras.

Gedenkfeier in der Stuttgarter City

Die Katastrophe bleibt ein Thema. Am Dienstagabend auch in der Stuttgarter City: Viele Akteure, die bei der Bewältigung der Katastrophe von Stuttgart aus halfen und helfen, trafen sich zu einer Gedenkfeier für die türkischen und syrischen Opfer auf dem Schlossplatz – von der Türkischen Gemeinde über das Deutsch-Türkische Forum bis zu der Hilfsorganisation Stelp. Mit dabei auch die türkische Generalkonsulin Makbule Koçak Kaçar und Sozialbürgermeisterin Alexandra Sußmann. Es war ein Zeichen der Solidarität und ein Werben um Aufmerksamkeit.