Das Elly-Heuss-Knapp-Gymnasium traut sich was. Dort unterrichten Gymnasial- und Sonderschullehrer die Klasse 5a gemeinsam. Denn die besteht aus 19 G8-Schülern und sieben geistig Behinderten.
Stuttgart - Lin versteckt sich zwischen zwei Schränken und lässt ihr buntes Armband pendeln – hin und her. Sie will nicht in den Unterricht. Jetzt nicht. Erst durch einen geschickten Arbeitsauftrag gelingt es Antonia Hetling, einer ihrer vier Klassenlehrer, das Mädchen zum Gang ins Klassenzimmer zu bewegen. Lin hat das Down-Syndrom und geht in die 5a am Elly-Heuss-Knapp-Gymnasium in Bad Cannstatt. Dort lernen 26 Kinder in gemischten Tischgruppen. Sieben der Kinder werden weder das Klassenziel des G8 erreichen noch ein Abitur und auch keinen Hauptschulabschluss: Sie sind geistig behindert.
Offiziell sind sie eigentlich Schüler der Helene-Schoettle-Schule und firmieren als Außenklasse. Aber wer der 5a einen Besuch abstattet, merkt sofort: es ist eine Klasse. Genau dies sei auch das Ziel, sagt Markus Beck, ebenfalls Klassenlehrer der 5a und am Elly Abteilungsleiter für Inklusion. Das Elly bietet – bisher als einziges Gymnasium in Stuttgart – eine Inklusion mit geistig Behinderten. Das Besondere daran ist der sogenannte zieldifferente Unterricht. Das bedeutet, dass die Kinder zwar miteinander im Klassenzimmer sitzen, aber unterschiedliche Dinge lernen.
Lernvoraussetzungen der Kinder sind sehr unterschiedlich
Doch wie kann Unterricht unter diesen Voraussetzungen funktionieren, fragt sich der unbedarfte Außenstehende. Zumal die Kinder einen Großteil des Unterrichts gemeinsam haben – nicht nur Musik, Sport, Ethik und Kunst, sondern zu großen Teilen auch Mathematik, Deutsch, Englisch und Biologie. Reicht es, wenn die meisten der Helene-Schüler lesen und manche auch schreiben können? Und was passiert, wenn sie nicht das tun, was von einem Regelschüler erwartet würde?
Ein Besuch im Biounterricht verschafft neue Einblicke. Geschlechtserziehung ist dran. Es geht um männliche und weibliche Geschlechtsorgane und um Geschlechtsverkehr – eine Schülerin liest diese Begriffe von der Tafel ab, einige Mitschüler kichern. Aber nur kurz. Als Christina Kurz die Hand hochhält, tun es fast alle Kinder nach. Es ist das Zeichen, still zu sein. Und es funktioniert. Kurz ist ebenfalls Klassenlehrerin in der 5a und Bio- und Mathelehrerin im Elly. Im Unterricht befinden sich zu dieser Stunde sechs Betreuer: Kurz, ihre sonderpädagogische Kollegin Hetling, die Referendarin Christina Dietelbach von der Schoettle-Schule und drei Teilnehmer am freiwilligen sozialen Jahr (FSJ), die drei Kindern als Eingliederungshilfen zur Seite stehen. Ein beeindruckendes Personaltableau. „Anders“, sagt Beck, „würde es nicht funktionieren.“ Es brauche zumindest ein Pädagogentandem.
Niemand lacht
Jede Tischgruppe holt sich ihr Material ab: zwei stilisierte nackte Menschen, Mann und Frau – jeweils einzeln auf foliertem Papier. Und dann, diskret zugedeckt, aufeinander im Bett. Die Kinder sollen Begrifflichkeiten für die Körperteile nennen und danach sortieren, ob es sich um medizinische Fachbegriffe, Umgangs- oder Gossensprache oder eine Umschreibung handelt. „Das Ding zwischen den Beinen“, schreibt ein Bub, aber auch Begriffe wie Penis, Pimmel, Glied und Schwanz gehen den Kindern locker über die Lippen. Ebenso wie Scheide und Vagina, auch mal mit W geschrieben. „Wieso heißt es eigentlich Mutterkuchen oder Fruchtblase?“, fragt ein Kind. „Das ist doch gar nicht fruchtig.“ „H-a-noch mal a-r-e“, lautiert ein Mädchen: Haare. Und es erhält ebenso Gehör wie die anderen. Niemand wird ausgelacht, aber es wird gemeinsam gekichert. Zwischendurch versucht jede Tischgruppe, gemeinsam ihren Arbeitsauftrag auszuführen – jedes Kind, so gut es kann oder will.
Nur Lin macht nicht mit. Sie sitzt in ihrer Tischgruppe und lässt ihr Armband pendeln, zwischendurch legt sie ihren Kopf auf den Tisch. Auch ihr Schulheft hat sie nicht hervorgeholt. Jetzt nicht. Eine FSJ-Helferin sitzt ständig neben ihr und versucht sie zu motivieren. Auch Christina Dietelbach probiert ihr Glück bei Lin: „Ziehst du ein Kärtchen?“ – „Nö“, sagt Lin.
Zwei geistig Behinderte schreiben beim Deutschaufsatz mit
Thomas Mästle, Konrektor der Schoettle-Schule, der auch zum Klassenlehrerteam der 5a gehört, sieht jedoch gerade bei Lin große Fortschritte. Sie verstecke sich nicht mehr so oft und halte es sogar in der Tischgruppe und in dem großen Klassenzimmer aus. Die anderen Kinder scheinen wenig Notiz von ihr zu nehmen. Aber wenn sie etwas sagt, ist es mucksmäuschenstill im Klassenzimmer. Und wenn sie fehle, fragten die Kinder, wo sie sei. Zwei andere Helene-Schüler, so berichtet Beck, hätten darauf bestanden, beim Deutschaufsatz mitzuschreiben – und durften auch. Sie seien dann aber enttäuscht gewesen, dass sie – im Unterschied zu ihren Elly-Mitschülern – keine Note dafür erhalten hätten.
Dies macht deutlich, dass mit der Inklusion zwei Systeme aufeinanderstoßen: hier die Schüler, für die die Versetzungsordnung gilt, die unter Leistungsdruck stehen, scheitern können und dann die Klasse verlassen müssten – dort die Schüler, deren Leistungsanforderung individuell ist und sich nicht über Noten definiert – die aber immer Unterstützung brauchen werden.
Herkömmlicher Unterricht ist in der 5a nicht drin
Beck versichert: „Jeder muss das Futter kriegen, das er braucht – da achten wir stark drauf. Wir machen keine Kuschelpädagogik.“ Denn für die G8er stehe am Ende das Abi. Aber er sagt auch: „Wir können keinen herkömmlichen Unterricht machen.“ Dessen Organisation habe man sehr sorgfältig vorbereitet. Das Thema Inklusion sei aber „ein heißes Eisen“ und auch im Elly „nicht unumstritten“, zumal Teamteaching in der klassischen Gymnasiallehrerausbildung nicht üblich war. Dennoch habe sich das Kollegium für eine weitere Inklusionsklasse ausgesprochen – „nach engagierter Diskussion, aber mit breiter Mehrheit“.