Forscher des Naturkundemuseums Stuttgart präsentieren den Chimärenflügler. Das Fossil gehört zu einer neuen Insektenordnung.

Stuttgart - Inmitten von Dinosauriern lebte das kleine Tier, dessen Flügel an die einer Libelle erinnern. Doch bei näherem Betrachten erkannten die Forscher des Staatlichen Museums für Naturkunde Stuttgart, dass es sich keineswegs um eine Libelle handelt. Das Fossil gehört vielmehr zu einer bisher nicht bekannten, neuen Insektenordnung. Denn der Chimärenflügler, wie Arnold Staniczek und Günter Bechly das Insekt auf Deutsch tauften, weist keinerlei Ähnlichkeiten mit den bekannten Insektenordnungen auf.

 

Seit vielen Jahren untersuchen Staniczek und Bechly die Fossilien aus der Crato-Formation, einer Gesteinssammlung aus Brasilien. Die Funde stammen aus der unteren Kreidezeit, die etwa vor 150 Millionen Jahren begann und vor 100 Millionen Jahren endete. Von diesem weltweit bekannten Fundort in Südamerika gelangten im Jahr 2000 Fossilien zur genaueren Untersuchung nach Stuttgart. Bei der Auswertung mit einem internationalen Team von Fachkollegen stießen Staniczek und Bechly auf das rätselhaft aussehende Insekt, das sie nun im Naturkundemuseum in Stuttgart vorstellten.

Staniczek dachte zuerst an eine Fälschung, doch ihm war schnell klar, dass die Flügel nicht nachträglich aufgeklebt waren. "Als ich die Fangarme sah, war klar: das ist etwas Neues", sagt Staniczek. Denn die Fangarme hätten ausgesehen wie die einer Gottesanbeterin, erklärt Bechly. Und Hinweise verdichteten sich, dass das Insekt ein Mix aus verschiedenen bekannten Ordnungen sein muss. "Die Flügelstruktur, an der Entomologen, also Insektenforscher, viel über die Ordnung eines Tiers ablesen können, war charakteristisch für eine Eintagsfliege", beschreibt Bechly die Merkmale des Fossils.

Weil das Fossil die Merkmale so vieler Insekten aufwies, kamen die beiden Forscher auf den Namen Chimärenflügler. In der griechischen Mythologie werden Mischwesen Chimären genannt. Der lateinische Name der neuen Insektenordnung, Coxoplectoptera, greift die besonders gebaute Hüfte (lateinisch: Coxa) auf. Der Name Plectoptera beschreibt die Zugehörigkeit zu den Fluginsekten. Der Name der Gattung Mickoleitiidae ehrt den Mentor Gerhard Mickoleit der beiden Forscher, die sich schon seit Studienzeiten kennen.

"Es sind ganz merkwürdige Tiere"

Die Chimärenflügler müssen vor rund 120 Millionen Jahren gelebt haben und sind später aus bisher unbekannter Ursache ausgestorben. Staniczek und Bechly konnten aber nicht nur die erwachsenen Tiere untersuchen, sondern auch die Larven. "Der Körperbau der Larve war einzigartig", sagt Staniczek. Sie hatten Kiemen, lebten also im Wasser. Sie dürften auch im Schlick gegraben haben, obwohl ihre Antennen und Fangbeine dabei gestört haben müssen. "Wir gehen davon aus, dass die Larve halb eingegraben im Wasser gelebt hat und mit den Fangbeinen vorbeiziehende Lebewesen gegriffen hat", erklärt Staniczek. "So etwas finden wir heute nicht mehr."

Die Untersuchung der Larven führte die Wissenschaftler zu einer weiteren Erkenntnis: die Flügel der Insekten haben sich nicht im Laufe der Evolution aus Beinen entwickelt. So lautet eine der beiden konkurrierenden Theorien zur Entstehung von Flügeln, die der Chimärenflügler nun zu widerlegen hilft. Die Alternative war bisher die sogenannte Paranotal-Theorie, die das Entstehen der Flügel mit starren Auswüchsen aus der Panzerplatte am Rücken des Insekts erklärt. "Bisher hatte man keine Entscheidungsmöglichkeit zu entscheiden, was stimmt", sagt Bechly. Doch bei den Larven des Chimärenflüglers lasse sich nachweisen, dass sich Kiemen aus den Rückenpanzern entwickelten.

"Somit sind die Flügel keine abgewandelten Beine", sagt Bechly. Eine Beteiligung der Gene, die die Entwicklung der Beine steuern, wie es in der Theorie zur Entwicklung der Flügel aus den Beinen heißt, müsse sekundär sein. Aber aufgeben wollen die Wissenschaftler auch die Bein-Theorie nicht: "Die Synthese der beiden Theorien bringt eine Lösung für die Flugtheorie", sagen sie.

Schon zu seiner Zeit vor 120 Millionen Jahren muss der Chimärenflügler alt ausgesehen haben. Er passt nicht so recht in die damalige Zeit und wirkt so, als sei er damals schon 100 Millionen Jahre alt gewesen. "Ausprägungen zum Beispiel der Adern auf den Flügeln zeigen: dieses Insekt war schon zu seiner Zeit ein lebendes Fossil", sagt Bechly. Ernährt hat es sich wohl von anderen Insekten. Wahrscheinlich hat es auch als Beute gedient - für die Flugsaurier der Kreidezeit. Warum das Insekt allerdings ausgestorben ist, wissen die Forscher nicht. "Wir wissen sicher, dass der Chimärenflügler von 150 bis 120 Millionen Jahren vor unserer Zeit gelebt hat und weltweit verbreitet war", sagt Bechly. Eine Theorie, die das Aussterben erklären könnte: in der Kreidezeit entwickelten sich die Blütenpflanzen in der Evolution weiter. So lebten auch Pflanzen in den Gewässern, dem Lebensraum der Larven. Andere Insekten haben sich damals womöglich besser den neuen Bedingungen unter Wasser angepasst und verdrängten den Chimärenflüger so aus seinem Lebensraum. Doch das sei noch Spekulation.

Die neue Ordnung der Chimärenflügler

Klasse: Der Chimärenflügler gehört zu der Klasse der Insekten. Andere Klassen in der Biologie sind beispielsweise die Säugetiere, zu denen auch der Mensch gehört. Die Taxonomie oder Klassifizierung in der Biologie gibt Auskunft über die Verwandtschaften.

Ordnung: Die Ordnung ist eine Rangstufe unter der Klasse. Die Entdeckung einer neuen Ordnung ist selten und kommt bei Insekten ungefähr alle zehn Jahre vor. Der Chimärenflügler gehört zu der Ordnung Coxoplectoptera. Der Mensch gehört zu den Primaten.

Art: Die Art eines Lebewesen ist die Grundeinheit in der Biologie. Die lateinischen Namen setzen sich aus der Gattung und der Art zusammen. So heißt der Chimärenflügler Mickoleitia longimanus, der Mensch auf Latein Homo sapiens.