Vor 40 Jahren hat sich auf der Zollernalb Deutschlands schwerstes Erdbeben der Nachkriegszeit ereignet. Auf der Richterskala erreichte es die Stärke von 5,7. Im Umkreis von 300 Kilometern war der Stoß zu spüren – und der Schaden ging in die Millionen.

Baden-Württemberg: Eberhard Wein (kew)

Albstadt - Ein dumpfes Grollen reißt die Menschen aus dem Schlaf. Auch Bernhard Geng erwacht unsanft. Der junge Mann springt auf. „Ich wollte zuerst die Wand festhalten.“ Dann blickt er aus dem Fenster. Dachziegel sind herunter gefallen. Schornsteine ragen als schief gestapelte Türme in die Höhe. Im Kinderzimmer fängt es an zu weinen. Da klingelt schon das Telefon, und es folgt die anstrengendste Woche im Berufsleben von Bernhard Geng. Der 35-Jährige ist an jenem 3. September 1978 Feuerwehrkommandant von Albstadt, der erst wenige Jahre alten Großen Kreisstadt im Zollernalbkreis.

 

Was Geng zu diesem Zeitpunkt nicht weiß: Es wird das schwerste Erdbeben nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland sein. Auf der Richterskala erreicht es die Stärke von 5,7. Im Umkreis von 300 Kilometern ist der Stoß zu spüren. Doch am schlimmsten erwischt es die Albstädter Ortsteile Tailfingen und Onstmettingen. Dort, fünf bis zehn Kilometern unterhalb der Erdoberfläche, befindet sich das Epizentrum. „Voller Angst stürzten Tausende ins Freie“ berichtet am folgenden Tag die lokale Presse. Auch Geng sieht, als er wenige Minuten später mit seinem Kommando-BMW in Richtung Onstmettingen fährt, wie Menschen in Schlafanzügen auf den Straßen die Ziegel aufheben. Schnell schickt er sie wieder in die Häuser. „Das Gefährliche sind die Nachbeben“, erinnert sich Geng. Es folgen 120 weitere Stöße. Der folgenreichste ereignet sich am Nachmittag. 21 Menschen werden verletzt. Die Behörden rufen Katastrophenalarm aus.

An der Kirche waren um sechs Uhr die Zeiger stehen geblieben

Es sei Glück gewesen, dass sich das Erdbeben so früh an einem Sonntagmorgen ereignet habe, sagt Hans Georg Pfarr. Sonst wären vermutlich mehr Menschen durch herunterfallende Ziegel verletzt worden. Der heute 81-Jährige war damals Oberbürgermeister. An die Uhrzeit des Bebens kann er sich wie viele andere auch noch genau erinnern. Tagelang ließ sie sich an der Dorfkirche im Nachbarort Killer ablesen. Um 6.08 Uhr waren die Zeiger stehen geblieben.

Die Zerstörungen seien für mitteleuropäische Verhältnisse dramatisch gewesen, sagt der Leiter des Landeserdbebendienstes in Freiburg, Stefan Stange. Mehrere tausend Gebäude, darunter die Hohenzollernburg, wurden erheblich beschädigt, einige hundert mussten abgestützt werden, für mehrere Dutzend blieb nur noch der Abriss. Um Dächer und Kamine zu reparieren, kamen aus dem gesamten Umkreis Feuerwehren zu Hilfe. 73 Drehleitern hatte der Kommandant Geng schließlich zur Verfügung. Sogar aus Waghäusel im Rhein-Neckar-Kreis kam Unterstützung. In der Tailfinger Stadthalle wurden mehrere hundert Rettungskräfte untergebracht.

Schaulustige wollten die Schäden aus der Nähe sehen

Im Gebäude der Stadtwerke kam der Krisenstab unter. „Handys gab es nicht, und im Rathaus hatten wir nicht genügend Telefonleitungen“, sagt der Alt-OB Pfarr. Schon damals gab es ein Problem mit Gaffern. Am Sonntag fielen hunderte Schaulustige in der Stadt ein, um die Schäden aus der Nähe zu betrachten. Die Polizei sperrte schließlich die Zufahrtsstraßen. Derweil weigerten sich viele italienische Gastarbeiter, in ihre Wohnungen zurückzukehren. „Sie wollten Zelte auf stellen und hatten große Angst, dass die Häuser doch noch einstürzen“, sagt Pfarr.

Auch der frischgebackene Ministerpräsident meldete sich in diesen Tagen bei dem OB. Ob er denn nicht übertreibe, wenn er öffentlich von 30 Millionen Mark Schaden spreche, wird Pfarr von seinem CDU-Parteifreund Lothar Späth getadelt. Er gehe mittlerweile sogar von 120 Millionen Mark aus, erwidert Pfarr. Später schätzte die Münchner Rück-Versicherung den Schaden gar auf 275 Millionen Mark (140 Millionen Euro). Trotzdem gab es selbst in Albstadt Menschen, die überhaupt nichts von dem Erdstoß mitbekommen hatten. Gegen 11.30 Uhr an jenem 3. September erreichte den OB ein Anruf. Wo er denn bleibe, die Vernissage in der Städtischen Galerie habe schon angefangen, hieß es vorwurfsvoll. Doch Pfarr konnte nicht kommen. Er sitze im Krisenstab, erklärte er dem verdutzten Kunstfreund.