Erfolgreiche Musikszene in Stuttgart Popkultur jenseits von Helene Fischer

Die Stuttgarter Band Die Nerven bei einem Auftritt im Club Schocken Foto: Steffen Schmid

Stuttgarts Musikszene ist so lebendig und selbstbewusst wie noch nie. Sie fühlt sich in Nischen wohler als in den Charts. Und das ist gut so, findet Gunther Reinhardt in seinem Kommentar.

Freizeit & Unterhaltung : Gunther Reinhardt (gun)

Stuttgart - Fast hätte uns Helene Fischer drangekriegt. Fast hätte sie uns glauben gemacht, dass sich zwischen den Generationen keine Abgründe mehr auftun, dass es zwischen ihnen nur noch klitzekleine Lücken gibt, die sich locker mit großartigen Melodien, schmissigen Beats, pompösen Showeinlagen und Erzählungen aus tausendundeiner atemloser Nacht überspringen lassen. Helene Fischer hat Pop zum Treffen der Generationen gemacht, zur Einheitsparty, bei der sich Schlager- und Rockfans, Omas und ihre Enkel in den Armen liegen.

 

Doch die Wirklichkeit ist kein Helene-Fischer-Konzert. Im wahren Leben sind wir uns nicht alle einig, finden nicht alle das Gleiche gut. Draußen vor der Tür verhärten sich die Fronten zwischen den Generationen. Erst kamen Fridays for Future, dann kam die Europawahl, bei der es am Ende nicht um rechts gegen links, sondern um Jung gegen Alt ging.

Der Soundtrack des Aufstands der Jungen

Es gab einmal Zeiten, da vertonte der Pop noch genau diese Kluft zwischen den Generationen. Als man die Musik noch Rock ’n’ Roll nannte, war sie der Soundtrack eines Aufstands der Jungen. Damals war alles aber auch einfacher. Als die Rolling Stones in den 1960er Jahren ihre ersten Auftritte hatten, reichte es, sich lange Haare wachsen zu lassen und den Blues von Willie Dixon oder den Rock ’n’ Roll von Chuck Berry ein bisschen schneller, lauter und rauer zu spielen, um gegen das Establishment, die guten Sitten und die Elterngeneration aufzubegehren.

So leicht bringt man heute keinen mehr aus der Fassung. Rock ’n’ Roll gehört zum wertkonservativen Inventar. Die Popindustrie, die in den 1960ern noch eine Gegenkultur vertrat, ist inzwischen ein Riesengeschäft. Helene Fischer ist nicht die Einzige, die jetzt so tut, als ob Pop der Klebstoff wäre, der die Generationen zusammenhält. Allein in Stuttgart gibt es in diesem Jahr drei Stadionkonzerte: An diesem Mittwoch singt Phil Collins, Ende Juni kommt Andreas Gabalier, Mitte Juli Pink zu Besuch. So unterschiedlich diese Popstars sind: Bei allen drei Gastspielen wird es darum gehen, das Publikum mit einem Spektakel zu überwältigen, bei dem für Groß und Klein gleichermaßen etwas dabei ist und das keinem wehtut.

Pop kann mehr sein als eine Auszeit von der Wirklichkeit

Doch so schön eine Auszeit von der Wirklichkeit ist – Popmusik kann mehr. Statt die Brüche in der Gesellschaft kunterbunt zu übertünchen, kann sie das Hier und Jetzt kritisch kommentieren, die Abgründe sichtbar machen, sperrig sein, polarisieren. Und da kommt Stuttgarts Musikszene ins Spiel. Zwar sucht man hier derzeit vergeblich nach den neuen Fantastischen Vier, nach dem nächsten Max Herre oder Cro. Zwar hat sich der Hip-Hop ein paar Kilometer den Neckar hinunter in Bietigheim-Bissingen eine neue Heimat gesucht, wo gerade die Träume der Rapper Rin, Bausa und Shindy vom großen Geld wahr werden. Doch nie zuvor war Stuttgarts Szene so lebendig, selbstbewusst und mutig wie heute. Nie zuvor hat sich Pop aus Stuttgart so perfide in so vielen obskuren Nischen wie Dreampop, Elektrojazz und Postpunk ausgetobt. Und nie zuvor war es so einfach, sich einen Überblick über das zu verschaffen, was in Stuttgart gerade passiert.

Wer allen gefallen will, macht etwas falsch

Das Festival Sound of Stuttgart im Stadtpalais lockt sie nämlich alle aus ihren Ecken. Zum Beispiel das Noiserock-Trio Die Nerven, um das uns Berlins Hipster schon lange beneiden. Falls Sie die Band noch nie gehört haben, gehen Sie hin! Vielleicht sind Sie hinterher begeistert. Vielleicht langweilen Sie sich. Vielleicht halten Sie die Musik für Krach. Vielleicht wünschen Sie sich zu Helene Fischer zurück. Aber genau so eine Vielfalt der Meinungen und Positionen ist nicht nur im gesellschaftlichen Diskurs unverzichtbar, sondern zeichnet auch eine Kultur aus, die den Namen Kultur wirklich verdient.

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