Ausverkaufte Konzerthallen und Fußballstadien, Spitzenplätze in den CD-Charts und im Pop-Business: Es gibt Erfolg, der ist quantitativ kaum noch zu steigern. Deswegen hat Helene Fischer offenbar anderes im Sinn. Aufnahmen in der „Vogue“, politische Statetments, Trennung von Florian Silbereisen: das Phänomen Helene Fischer wandelt sich. Aber wohin?
Stuttgart - Am besten, man macht Witze über Helene Fischer. Das geht immer. „Hab jetzt Helene Fischer als Weckton. Seitdem bin ich immer fünf Minuten früher wach, damit ich mir das nicht anhören muss.“ Egal, wie unbekannt die Runde ist, in die man gerät, auf kein anderes gemeinsames Augenroll-und-Mundwinkelverzieh-Thema kann man in Deutschland so blind spekulieren, wie auf die derzeit erfolgreichste Unterhaltungskünstlerin. Der Kabarettist kann fünftklassig sein, mit einem dieser Sprüche erntet er garantiert doch noch einen Lacher: „,Glückwunsch, Sie haben zwei Helene-Fischer-Konzertkarten gewonnen.’ – ,Kann ich auch einfach nur jemanden grüßen?’“
Das ist das eine.
Und auf der anderen Seite geht ein Jahr zu Ende, das von ganz anderen Gefühlen des Publikums für Helene Fischer spricht. Von Herbst 2017 bis Frühjahr 2018 hat sie 63 Mal die großen Konzerthallen im deutschsprachigen Raum bespielt; allein in Stuttgart war die Schleyerhalle an fünf aufeinander folgenden Abenden im Januar ausverkauft. Und unmittelbar nach dieser Tour hat Fischer im Sommer noch 13 Stadionkonzerte gegeben – auch eines in Stuttgart, wieder ausverkauft. Das am meisten verkaufte Popalbum in Deutschland 2018 heißt schlicht „Helene Fischer“. Und es hat alle Konkurrenten geschlagen, obwohl es bereits im Mai 2017 erschienen ist. 2017 war es übrigens auch schon der Charts-Spitzenreiter.
Die „Vogue“ zeigt keine glatte Traumprinzessin
2005 hatte Helene Fischer ihren ersten Auftritt als Sängerin im deutschen Fernsehen, da war sie 21 Jahre alt. Inzwischen ist sie 34 Jahre alt – und womöglich an einer Wendemarke ihrer bisher ziemlich einmaligen Karriere. Dass die deutsche „Vogue“ im Januar-Heft zum Auftakt ihres 40-Jahr-Jubiläums die Fischer auf ihrem Cover abbildet, mag man auf den ersten Blick noch als weitere gelungene PR-Aktion verbuchen, für beide Seiten. Aber nicht mehr auf den zweiten Blick. Denn was der internationale Fotografen-Star Peter Lindbergh im Heftinneren auf rund 30 Seiten präsentiert, ist ganz sicher nicht die Helene Fischer, die ihre Fans gewohnt sind, auf der Bühne oder im Fernsehen zu bejubeln.
Die „Vogue“-Fischer ist alles andere als eine Traumprinzessin, eine makellose Glamour-Queen, ein strahlend blonder Schlager-Engel. Es ist eine Fischer konsequent in Schwarz-Weiß, eine höchst selbstbewusste Mittdreißigerin überwiegend in Tanzposen. Das, was wir von ihrem Körper sehen, ist, oberflächlich ausgedrückt, offensichtlich in Topform. Oder, um es genauer auszudrücken: Lindberg und Fischer zeigen, wie viel Training, wie viel Muskeln, wie viel Arbeit in der Erscheinung, in der, um es neudeutsch auszudrücken, Performance der Künstlerin stecken.
Nach Chemnitz äußerte sich Helene Fischer politisch klar
Kurzum: Nach ihrem Auftritt in der „Vogue“ ist Helene Fischer endgültig kein glattes Glanzprodukt mehr. Das pure Märchen ist zu Ende. Entertainment ist eben doch kein reines Spiel. Und das ist sie ja; jeder weiß das, der sie schon einmal in ihrem Konzert erlebt hat: eine überdurchschnittlich begabte deutsche Entertainerin. Sie kann davon ausgehen, dass solche Fotos nicht all ihren Fans gefallen werden. Sie nimmt das offenbar in Kauf.
Auch an anderen Stellen hat Fischer in diesem Jahr Dinge getan, die nicht all ihren Fans gefallen haben dürften. Nach den Ausschreitungen von Chemnitz Anfang September schreibt sie bei Instagram: „Wir können und dürfen nicht ausblenden, was zurzeit in unserem Land passiert, doch wir können zum Glück auch sehen, wie groß der Zusammenhalt gleichzeitig ist“, und fügt unter anderem #wirbrechendasschweigen und #wirsindmehr an, die Hashtags der Popmusiker-Initiative gegen Fremdenfeindlichkeit. Eine derart eindeutige politische Positionierung ist in Schlagerkreisen sehr unüblich. Politische Festlegungen jenseits von Tierschutz oder Hungerhilfe meiden die Stars dieser Szene mit ganz wenigen Ausnahmen so heftig wie der Teufel das Weihwasser; sie haben viel zu viel Angst vor Shitstorms und Dislikes auf ihren Netzwerk-Profilen.
Auch ein Duett in der Weihnachtsshow hat klare Aussagen
Da ist es nur konsequent, dass Fischer in ihrer jüngsten TV-Show am ersten Weihnachtstag ein Duett mit der in der Öffentlichkeit und auf der Bühne selbstbewusst lesbisch auftretenden Schlagersängerin Kerstin Ott singt: Ihr gemeinsames Lied „Regenbogenfarben“ tritt für eine selbstbewusst diverse, also vielfältige deutsche Gesellschaft ein – und hat das Zeug und den Schmelz, im Sommer 2019 auf den Christopher-Street-Paraden des Landes zumindest unter den schlageraffinen Teilnehmern zur Mitsing-Hymne zu werden.
Glätte aufgeben, angreifbarer werden, vielschichtiger, dabei aber nie an Perfektion verlieren: Wenn nicht alles täuscht, wird sich das dann auch musikalisch ausdrücken auf einem neuen Album, das im Herbst 2019 eigentlich gut platziert wäre. Und, mit Verlaub, bei diesem veränderten Konzept passt es auch, eine langjährige Beziehung mit dem Volksmusik-Showstar Florian Silbereisen nun endlich auch offiziell zu beenden – eine Beziehung, die beiden über Jahre hinweg in der Boulevard-Presse konstant Berichterstattung garantiert hat, deren PR-Qualität aber eben auch stets einen Tick zu offensichtlich war.
Das Jahr 2018 war das Jahr der Helene Fischer. 2014/2015 war es schon einmal maximal erfolgreich für sie gelaufen; damals dachten viele, das läge nur am Hype um den Fußball-Weltmeister, an dessen Triumph sie sich mit „Atemlos“ geschickt drangehängt hätte. Vier Jahre später scheitert die deutsche Herren-Fußballmanschaft in der WM-Vorrunde, aber Helene Fischer ist weiter Spitze. „New York Times“ und „Forbes“ zählen sie zu den Top Ten der Spitzenverdienerinnen im internationalen Popgeschäft. Was will sie quantitativ da noch steigern? Alles, was sie mit jetzt gerade mal 34 Jahren neu erreichen kann, sind neue Qualitäten: Ecken, Kanten, Differenz, Spiel, Experiment. Das Potenzial dazu hat sie wie keine andere, kein anderer hierzulande. Das Ergebnis wird zweifellos neue Witze über sie provozieren. Aber sie wird viele von uns gut und anspruchsvoll unterhalten. Ein Misanthrop, der daran per se nur Böses finden kann.