Stirbt ein Mensch, bleiben nach der Verwesung nur Knochen, Zähne, Haare und Fingernägel übrig. Doch in seltenen Fällen wird die Verwesung auf natürlich Weise aufgehalten. Immer wieder werden bei archäologischen Grabungen Gewebeteile und sogar Gehirne gefunden. Forscher haben jetzt eine weltweite Datenbank mit solchen mumifizierten Gehirnen erstellt.

Wochenend-Magazin: Markus Brauer (mb)

Haben Sie sich schon mal gefragt, wie lange die Verwesung eines Leichnams dauert? Die Zersetzungsprozesse im Körper, die zum Abbau organischer Substanzen führen, hängen maßgeblich von den Umgebungsbedingungen ab. Bei reichlicher Sauerstoffzufuhr schreitet die Verwesung sehr schnell voran. Wärme beschleunigt sie, während Kälte sie verlangsamt. An der frischen Luft schreitet die Verwesung zweimal so schnell voran wie im Wasser und achtmal so schnell wie in einem Erdgrab.

 
Verwesender Storch auf Island. Foto: Imago/Action Pictures

Natürliche Bildung von Mumien

In einem Erdgrab löst sich das komplette Körpergewebe innerhalb von ein bis zwei Jahren auf. Fingernägel, Haare und Sehnen brauchen etwa vier Jahre, um zu verwesen. Die Knochen zersetzen sich ganz zum Schluss.

Durch besondere Verfahren kann ein Prozess der langfristigen Leichenkonservierung eingeleitet werden, der als Mumifizierung bezeichnet wird. Die alten Ägypter waren wahre Meister in der Konservierung ihrer Toten.

Moorleiche – Tollundmann – aus dem Moor von Tollund im Museum von Silkeborg in Dänemark: Radiokarbondatierungen ergaben einen wahrscheinlichen Todeszeitraum von 405–380 v. Chr.. Foto: Imago/Martin Werner

Als Mumifikation bezeichnet man hingegen den natürlich ablaufenden Prozess einer langfristigen Leichenkonservierung, der zur Bildung von Mumien führt. Besondere äußere Umstände wie starke Sonnenstrahlung, trocken-kalte Zugluft, große Kälte oder rasche Einbettung in ein giftiges Milieu können in machen Fällen die Verwesung und Fäulnis frühzeitig stoppen.

Mumifikation kann Verwesung stoppen

Was auf dem Titelbild wie die Hälfte einer verrotteten Walnuss ausieht, ist tatsächlich ein rund 1000 Jahre altes Gehirn, das einer natürlichen Mumifikation ausgesetzt war. Es gehört einem Menschen, der im 10. Jahrhundert auf dem Friedhof der Sint-Maartenskerk (St. Martinskathedrale) in der belgischen Stadt Ypern begraben wurde. Neben dem Skelett ist nur das mumifizierte Gehirn erhalten geblieben – ohne menschliches Zutun. Die orange Farbe stammt von Eisenoxid – Rost. Die Gehirnoberfläche ist immer noch weich und feucht.

Die Punkte markieren die weltweiten Funde mit mumifizierten Gehirnen. Foto: © Alexandra L. Morton-Hayward/University of Oxford

Weichteile wie das Gehirn sind normalerweise die ersten Körperteile, die nach dem Tod zerfallen, wenn nicht der natürliche Verwesungsprozess durch äußere Eingriffe wie Einbalsamierung oder Einfrieren aufgehalten wird. Umso mehr überrascht es, das weltweit rund 4400 Fälle bekannt sind, in denen neben dem Skelett eines Toten auch sein Gehirn jahrhunderte- oder jahrtausendelang erhalten geblieben ist.

Erstes Archiv für archäologische Hirne

Um dieses wissenschaftliche Rätsel zu lösen, haben Forscher um Alexandra Morton-Hayward von der University of Oxford in England jetzt alle bekannten Fälle natürlicher Hirnkonservierung aus über 200 Quellen auf sechs Kontinenten erstmals in einem Archiv zusammengetragen.

Ihre Studie haben die Wissenschaftler im Fachmagazin „Proceedings of the Royal Society B Biological Science“ veröffentlicht.

Spezifische Umweltbedingungen ermöglichten Konservierung

Die „Spender“ der menschlichen Denkorgane reichen von ägyptischen und koreanischen Königen über britische und dänische Mönche bis hin zu Arktisforschern und Kriegsopfern. Auch bis zu 12 000 Jahre alte Gehirne sind im Archiv eingetragen.

Liste mit fünf der untersuchten mumifizierten Gehirne. Foto: © Alexandra L. Morton-Hayward/University of Oxford

Um herauszufinden, wie es zu dieser Konservierung kam, haben Morton-Hayward und ihre Kollegen als erstes die Fundorte der Leichname genauer untersucht. Sie reichen von Arktis bis hin zu Wüsten, sind am Ufer eines steinzeitlichen Sees in Schweden, in einer iranischen Salzmine aus dem Jahr 500 v. Chr. sowie auf den Gipfel von Andenvulkanen in Peru aus der Zeit der Inka zu finden.

Die unterschiedlichen Fundstätten lassen darauf schließen, dass es spezifische Umweltbedingungen waren, welche die Konservierung der Gehirne ermöglichten. Sie hatten offenbar einen ähnlich konservierenden Einfluss wie eine Mumifizierung durch Menschen, schreiben die Experten. Zu den natürlichen Konservierungsmethoden gehörten die Austrocknung durch Wüstenklima, das Gefrieren durch eisige Temperaturen und das Gerben mit Torf bei Moorleichen.

Bleibt das Gehirn durch Biochemie länger erhalten?

Die Untersuchungen ergaben, dass in mehr als 1300 der 4400 Fälle hatte sich jedes andere Organ neben dem Gehirn zersetzt hatte. Morton-Hayward vermutet, dass dies mit der Struktur des Nervengewebes im Gehirn zusammenhängen könnte.

Möglicherweise enthält es biochemische Strukturen, die der Verwesung unter bestimmten Bedingungen besser widerstehen als andere Weichteile.

Die Fälle, in denen das Gehirn als einziges Organ mumifiziert erhalten geblieben ist, gehören auch zu den ältesten bekannten Fällen. Die meisten stammen aus der letzten Eiszeit vor rund 12 000 Jahre. „Wir finden in diesen archäologischen Gehirnen eine erstaunliche Anzahl und Art alter Biomoleküle“, sagt Morton-Hayward. „Es ist spannend zu erforschen, was sie uns über das Leben und den Tod unserer Vorfahren sagen können“.“