Das Verfassungsgericht berät am Dienstag darüber, was schlimmer ist: wenn ein verfassungskonformes Gesetz verspätet in Kraft tritt oder ein Gesetz, das nicht durch das Grundgesetz gedeckt ist, zunächst geduldet wird.

Karlsruhe - Das hat es noch nicht gegeben. Das Bundesverfassungsgericht erörtert am Dienstag in mündlicher Verhandlung, ob es eine einstweilige Anordnung erlassen wird. Die wird sonst ohne Anhörung der Beteiligten auf einem Blatt Papier verkündet. Mündliche Verhandlungen sind auch dort, wo es um die Sache, nicht nur um das vorgeschaltete Eilverfahren geht, in Karlsruhe die Ausnahme. Das Gericht verhandelt diesmal mit einer Tagesordnung, die umfänglicher und tiefgründiger ist als manche, die für eine Hauptverhandlung gemacht wurde. Das zeigt nicht nur, wie wichtig die Karlsruher den Euro-Rettungsschirm ESM nehmen, es lässt auch erste Rückschlüsse darauf zu, in welcher Richtung sie denken.

 

Dem Buchstaben des Gesetzes nach trifft das Verfassungsgericht mit einer einstweiligen Anordnung keine Vorentscheidung in der Sache. Es wägt lediglich ab, was schwerer wiegt: Der Nachteil für die Kläger, wenn ein Gesetz zunächst in Kraft tritt, das später für verfassungswidrig erklärt wird, oder der Nachteil für den Gesetzgeber, wenn eine Regelung zunächst angehalten wird, die später für verfassungskonform erklärt wird.

An Verhandlung gibt einen ersten Hinweis auf die Entscheidung

In diesem Fall wären die Nachteile beider Seiten enorm. Die Klagen gegen den Rettungsschirm würden ins Leere laufen, sobald Zahlungen an die notleidenden Staaten und Banken getätigt sind, die nicht mehr rückgängig gemacht werden können. Andererseits ist das Risiko mindestens ebenso groß, dass die „Märkte“ schon dann verrückt spielen werden und so die gesamte europäische Politik ins Rutschen bringen könnten, wenn die Richter den Schirm und den Fiskalpakt stoppen. Denn jeder weiß: Entgegen dem Wortlaut des Gesetzes geben die Richter sehr wohl einen – freilich vorläufigen – Hinweis auf eine entsprechende Entscheidung in der Hauptsache, wenn sie eine einstweilige Anordnung erlassen.Die Tagesordnung hat diesmal 39 Punkte, Unterpunkte und Spiegelstriche. Vor der Folgenabwägung prüfen die Richter zunächst, ob die Klagen und die Verfassungsbeschwerden formal unzulässig oder aber „offensichtlich unbegründet“ sind. Dass die Klagen bereits daran scheitern, ist aber wenig wahrscheinlich. Immerhin haben die Richter bereits 2011 und 2012 vergleichbare Klagen, bei denen es um geringere Summen und Risiken ging, ausdrücklich zugelassen.

Die Richter haben 2011 und 2012 ähnliche Klagen zugelassen

Die Frage der „Unzulässigkeit“in der Hauptsache taucht in der Verhandlungsgliederung des Gerichts auch nur einmal auf; sie wird wohl keine nennenswerte Rolle spielen. Die Frage der „offensichtlichen Unbegründetheit“ wird bei drei der vier Gesetze geprüft, in denen die Regeln für Rettungsschirm und Fiskalpakt geregelt sind. Die Richter kündigen aber ausdrücklich an, ihre Euro-Urteile aus den Jahren 2011 und 2012 auch weiterhin als Maßstab für die verfassungsrechtlichen Prüfung zu nehmen. Wer dieses Urteil nachliest, kommt beinahe zwangsläufig zu dem Schluss, auch die neuen Klagen seien zumindest nicht „offensichtlich“ unbegründet.

Was geprüft wird, muss den Gesetzgeber alarmieren

Was die Richter in diesem Zusammenhang dennoch prüfen wollen, sollte den Gesetzgeber alarmieren. Die Stichworte sind: Höhe der Verpflichtungen und Risiken; Automatismus; strikte Konditionalität; haushaltspolitische Gesamtverantwortung und Beteiligung des Bundestags. Die Richter wollen also wissen, wie viel Deutschland zahlen muss, welche Nachforderungen kommen können, ob sich die Schuldner aus ihren Verpflichtungen stehlen können, und ob das Parlament auf Generationen hinaus in seinem Budgetrecht gefesselt ist. Diese Fragen zu stellen, heißt beinahe schon sie zu beantworten. Die Kläger müssen sie nicht fürchten.Für die wichtigere Abwägung zwischen den Interessen der Kläger, der Regierung und der Bundestagsmehrheit fragen die Richter im Kern noch einmal dasselbe und sprechen dann weitere zentrale Probleme an, die normalerweise einer Verhandlung in der Hauptsache vorbehalten sind.

Die Stichworte hier: Kapital des Rettungsschirms; Umfang der Gewährleistungen; deutsche Nachschusspflichten; sonstige Risiken des Rettungsschirms; Kumulation der Haftungsrisiken durch die Zusagen von anderen Leistungen, seien sie bilateral oder über die Zentralbank gegeben; Verantwortung des Parlaments; Bindung des Haushaltsgesetzgebers auf Dauer; Überwachung durch die Europäische Kommission. Das sind alles Fragen, deren Antworten auf die eine, den Klägern günstige Seite der Waagschale fallen.

Kläger gegen den EMS müssen wenige Fragen fürchten

Die Liste der Fragen, die die Kläger fürchten müssen, ist im Vergleich dazu kurz. Die Stichworte dazu: Marktreaktionen und ökonomische Risiken einer Verzögerung beim Aufspannen des Rettungsschirms sowie Kündigungsmöglichkeiten und Vorbehalte.

Man könnte auch sagen: Außer den Marktreaktionen zielen die entscheidenden Fragen in Richtung auf eine einstweilige Anordnung. Schau’n wir mal, welche Macht die Märkte auch in Karlsruhe wirklich haben.