Die Regeln dafür, wie neue Arznei an Menschen getestet wird, sollen europaweit einheitlich werden. Der teils heftig kritisierte Gesetzentwurf der EU-Kommission wird dabei noch stark verändert – unter anderem heute vom Europaparlament.

Stuttgart - Es geht um das Wie, nicht um das Ob: Dass Menschen im Namen des wissenschaftlichen Fortschritts Risiken ausgesetzt werden, gilt als gesellschaftlicher Konsens. So betont auch der Deutsche Bundestag Ende Januar in einer von Union, SPD, FDP und Grünen gemeinsam verabschiedeten Stellungnahme „die besondere Bedeutung klinischer Forschung in der EU im Hinblick auf die Entwicklung neuer Arzneimittel und die weitere Verbesserung der Behandlungsmöglichkeiten von Krankheiten“. Entsprechend begrüßt das Parlament den von der Brüsseler EU-Kommission im Juli vergangenen Jahres vorgelegten Gesetzentwurf, der die Kriterien europaweit vereinheitlichen würde.

 

Die neue Verordnung, die überall direkt gelten würde, soll eine existierende EU-Richtlinie von 2001 ersetzen, die in den 27 Mitgliedstaaten verschieden ausgelegt wird. Dies bringt für Pharmaunternehmen und nicht kommerzielle Forschungseinrichtungen erheblichen bürokratischen Aufwand mit sich. Mit den vereinfachten Regeln ließen sich jährlich 800 Millionen Euro an Verwaltungskosten einsparen, die dann für Forschung und Entwicklung zur Verfügung stünden, argumentiert die EU-Kommission.

Brüssel geht es um den Wettbewerb

Und es geht Brüssel um den Wettbewerb. Da die Zahl der Genehmigungen von Arzneitests an Menschen abnimmt – 2007 waren es mehr als 5000, im Jahr 2011 nur noch 3800 – will die EU-Kommission laut einem Hintergrundpapier „die patientenorientierte Forschung in die EU zurückholen“. Allerdings verzeichneten auch die USA seit Ausbruch der Finanzkrise ähnliche Einbrüche in diesem Bereich.

Nun aber sollen Firmen, die Medikamente der Einfachheit halber an Menschen in Asien, Südamerika oder Russland testen, diesen künftig Schutz auf europäischem Niveau bieten. Wer seine Arznei auch in der EU zugelassen haben will, für den wird es unattraktiv, in „Niedrig-Schutz-Länder“ auszuweichen.

Nicht nur deshalb sieht der Arzt Peter Liese, der gesundheitspolitischer Sprecher der Christdemokraten im Europaparlament ist, das Gesetzesvorhaben „im Grundsatz positiv“. Das liegt vor allem am Kernpunkt, wonach künftig jeder Forscher nur noch eine Stelle kontaktieren muss und nicht mehr mehrere in mehreren Ländern. Laut EU-Kommission sollen 24 Prozent aller in der EU beantragten klinischen Prüfungen in zwei oder mehr Mitgliedstaaten durchgeführt werden.

Die Ethikkommissionen tauchen in der Gesetzesvorlage nicht auf

Der Arbeitskreis medizinischer Ethikkommissionen in Deutschland begrüßt auch ausdrücklich, dass es für sogenannte minimal interventionelle Versuche eine Sonderregelung mit weniger strengen Auflagen und kürzeren Genehmigungsfristen geben soll. Das gilt etwa für bereits bekannte Substanzen, die lediglich unter neuen Umständen getestet werden sollen. „Ob auch drei statt sechs Medikamente für eine Krebsbehandlung ausreichen, ist für die Patienten sehr wichtig“, sagt Liese. „Die Industrie aber würde das nie selber machen, und für nicht kommerzielle Einrichtungen, die schon 40 Prozent der Tests durchführen, ist der Aufwand zu hoch.“ Hier hilft die bürokratische Entlastung.

Der Rest jedoch ist Kritik. Liese sieht „Nachbesserungsbedarf“, der Bundestag „erhebliche Mängel“. Und die Ethikkommissionen sprechen gar davon, dass der Gesetzestext „grundlegende ethische Prinzipien und damit auch unser Menschenbild verletzt“.

Das liegt auch daran, dass die Ethikkommissionen gar nicht auftauchen. Zwar beharrt Brüssel darauf, es werde „nicht vorgeschrieben, welche Stelle innerhalb des Mitgliedstaats klinische Prüfungen genehmigt“, doch ist es genau diese Flexibilisierung, die der Bundestag beklagt: „Somit muss das geplante Forschungsvorhaben nicht zwingend vor seinem Beginn einer von der Zulassungsbehörde unabhängigen Einrichtung zur Beratung und Zustimmung vorgelegt werden.“

In europäische Länder mit niedrigen Standards auszuweichen

Dies wiederum ist im Zusammenhang mit einem weiteren Hauptkritikpunkt relevant. Wenn nämlich ein Mitgliedstaat für ganz Europa Genehmigungen erteilen kann, besteht für Unternehmen die Möglichkeit, in europäische Länder mit niedrigeren Standards auszuweichen. So existieren vielerorts keine gesonderten Schutzklauseln für Kinder oder Behinderte. Zudem kennt das deutsche Arzneimittelgesetz die individualethische Abwägung: Ein Arzneimittelversuch muss demnach „ärztlich vertretbar“ sein. Im neuen Gesetzestext wird dagegen sozialethisch argumentiert: So sollten „insbesondere der erwartete therapeutische Vorteil und Nutzen für die öffentliche Gesundheit (‚Relevanz‘) sowie das Risiko und die Unannehmlichkeiten für die Probanden abgewogen werden“.Dass solche Schutzvorschriften weitgehend fehlen, auch wenn die EU-Kommission „keinerlei Kompromisse hinsichtlich der Sicherheit der Patienten“ eingegangen sein will, haben auch die beiden europäischen Gesetzgeber erkannt. Im Ministerrat haben bereits 16 Staaten Beratungsbedarf angemeldet, ehe im Juni erste Entscheidungen fallen sollen. Einen Parlamentsvorbehalt haben neben dem Bundestag auch die Abgeordnetenkollegen in Dänemark, Großbritannien und Polen formuliert. Die Bundesregierung verhandelt auch in diesem Sinne. „Wir wollen nicht“, sagt ein EU-Diplomat, „dass die Harmonisierung der Regeln zu einer Verwässerung der Standards führt.“

Im Europaparlament wird das genauso gesehen. Heute stellt die britische Labour-Abgeordnete Glenis Willmott als Wortführerin des Parlaments im Gesundheitsausschuss ihren Bericht mit Änderungsvorschlägen vor. „Sie bringt die Ethikkommissionen wieder ein“, heißt es in der sozialdemokratischen Fraktion, „und rückt Wohl und Rechte der Versuchsteilnehmer wieder in den Vordergrund.“