Jean-Claude Juncker hat einen klassischen Fehlstart hingelegt. Der neue EU-Kommissionschef steht wegen der Luxemburg-Leaks in der Kritik. Die meisten europäischen Medien halten ihn für nicht mehr glaubwürdig. Ein Überblick über die europaweiten Meinungen

Korrespondenten: Knut Krohn (kkr)

Brüssel - Jean-Claude Juncker geht in die Offensive. Nach der Aufdeckung umstrittener Steuersparmodelle Luxemburgs für Großkonzerne will die Europäische Union gegen den Missbrauch solcher Konstrukte vorgehen. EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker kündigte in Brüssel Gesetzesvorschläge an, um bei Steuerabsprachen für Konzerne („tax rulings“) einen automatischen Informationsaustausch unter EU-Staaten zu organisieren. Er bedauerte, nicht schon vorher zu den Enthüllungen in Luxemburg Stellung genommen zu haben: „Das war ohne Zweifel ein Fehler.“ Im Parlament erhielt Juncker die Rückendeckung der großen Fraktionen.

 

Die Meinung zu Juncker und seinem Schweigen ist europaweit fast einhellig. Die meisten Kommentatoren halten den neuen Kommissionschef für nicht mehr glaubwürdig. Hier ein kleiner Auszug aus der Presselandschaft:

Der Standard (Österreich)

„’Der Standard’ weist auf die Steuerflucht in verschiedenen EU-Staaten hin: „Mehr als zwanzig Staaten wenden die Methode von Vorabdeals zur Steuerleistung an. Es ist sogar eine Spezialität der Nationalstaaten, Unternehmen durch solche – und andere – Sonderkonditionen anzulocken. Halb Osteuropa ist ein Körperschaftssteuerparadies, wo deutsche Konzerne beste Geschäfte machen – von britischen Steueroaseninseln oder Steuererlasszonen in Irland oder Belgien gar nicht zu reden. Das mag Luxemburg und seinen früheren Premierminister, den jetzigen Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker, nicht sympathisch erscheinen lassen. Aber der ist wenigstens konsequent, tritt die Flucht nach vorne an, fordert die einzig sinnvolle Lösung: eine EU-weite Regelung zur Steuerharmonisierung.“

Pravda (Slowakei)

Für die linksliberale Tageszeitung „Pravda“ ist Jean-Claude Juncker als EU-Kommissionspräsident nicht mehr glaubwürdig. Die Zeitung schreibt: „Auch wenn sich Luxemburg und Juncker persönlich damit verteidigen können, dass alles legal war, weil es klare Regeln für die Steuervorteile gab, ist die Frage angebracht: Kann an der Spitze der Europäischen Kommission ein Mensch stehen, der mithalf, sein Heimatland in ein Steuerparadies zu verwandeln und damit die anderen EU-Länder schädigte? Wohl kaum.“

Jyllands-Posten (Dänemark)

Die rechtsliberale Tageszeitung „Jyllands-Posten“ (Aarhus) kommentiert die Enthüllungen um die Luxemburger Steuertricks: „Die Enthüllungen um die Steuerhinterziehungen zeigen deutlich, dass die EU-Länder wirtschaftlich miteinander verbunden sind, und dass es Grenzen dafür gibt, was jedes Land für sich tun kann. Die Antwort auf die ‚Luxemburg-Finte’ ist weder dänisch, britisch noch deutsch, sondern europäisch. Vielleicht braucht es sogar weitere Abtretungen von Souveränität im wirtschaftlichen Bereich, und es gibt nicht viel, das darauf hindeutet, dass die Europäer dazu bereit sind. Juncker – und nicht zu vergessen seine Wettbewerbskommissarin – stehen in mehr als einer Hinsicht vor einer Herausforderung. (...) Jean-Claude Juncker und mit ihm die ganze EU-Kommission stehen vor einer großen Aufgabe: zwischen der Abneigung der Europäer einer stärkeren Integration und der globalen Wirklichkeit, die diese notwendig macht, zu balancieren.“

De Standaard (Belgien)

Zu den Steuertricks von Konzernen mit Hilfe Luxemburgs heißt es in der Zeitung „De Standaard“: „Die politische Frage lautet natürlich, wie glaubwürdig Jean-Claude Juncker nun noch an der Spitze der EU-Kommission agieren kann. Als Vorsitzender der Eurogruppe bis Anfang 2013 war Juncker einer der Architekten einer schmerzhaften Sparpolitik zur Eindämmung von Staatsschulden. Aber zugleich ließ er als Ministerpräsident zu, dass der luxemburgische Fiskus Modelle anbot, durch die anderen EU-Staaten Steuereinkünfte verloren gingen. (...) Im Europäischen Parlament versprach Juncker am 15. Juli, dass seine Kommission die Anstrengungen im Kampf gegen Steuerbetrug und Steuervermeidung verstärken werde. Er wolle sich unter anderem für eine gemeinsame europäische Grundlage zur Berechnung von Unternehmenssteuern einsetzen. Doch wer glaubt Juncker jetzt noch?“

Frankfurter Allgemeine Zeitung (Frankfurt)

Die „Frankfurter Allgemeine“ beschäftigt sich mit dem möglichen Interessenkonflikt des EU-Kommissionspräsidenten Juncker mit der Steueraffäre in seinem Heimatland Luxemburg: „Die Debatte über die politische Verantwortung für die fragwürdigen Steuerpraktiken in Luxemburg dreht sich um zwei Aspekte, die unterschieden werden sollten. Der eine betrifft die Frage, ob Jean-Claude Juncker heute als EU-Kommissionspräsident tragbar ist, wenn er früher Regierungschef eines Landes war, das sich auf Kosten seiner Nachbarn zur Steueroase gemacht hat. Die Antwort ist: Ja, sofern diese Praktiken legal waren, so unsolidarisch das Luxemburger Verhalten auch gewesen sein mag. Gewissheit wird hoffentlich die Untersuchung der EU-Kommission ergeben, die korrekterweise von der zuständigen Kommissarin und nicht von Juncker selbst geführt wird.“

Thüringische Landeszeitung (Weimar)

Die „Thüringische Landeszeitung“ glaubt, dass Juncker seine Glaubwürdigkeit verspielt hat: „Hinzu kommt, dass das kleine Großherzogtum als finanzpolitischer Musterknabe gilt. Was wohl fühlen die gebeutelten Griechen nun, da die Tricksereien in Luxemburg aufgedeckt werden? Als Mahner für mehr Solidarität in Europa jedenfalls dürfte Juncker nun nicht mehr taugen. Das kleine Land als riesiger Investment-Platz dank komplizierter Finanzkonstruktionen – Gerechtigkeit sieht anders aus. Auch wenn dies alles nicht strafbar sein sollte.“

Hannoversche Allgemeine Zeitung (Hannover)

Die „Hannoversche Allgemeine Zeitung“ analysiert die Rolle des EU-Kommissionspräsidenten Juncker in der Steuer-Debatte um Luxemburg: „Jean-Claude Juncker trägt als damaliger Finanzminister und später Premierminister Luxemburgs die politische Verantwortung für dieses schamlose Steuerdumping. Seit ein paar Tagen ist er der amtierende Präsident der EU-Kommission – zu deren Aufgaben zählt es, für gerechten Wettbewerb zu sorgen. Tatsächlich ermittelt die Kommission bereits gegen Luxemburg: Nicht wegen Steuerbetrug, sondern wegen Verstoßes gegen das EU-Beihilferecht. Aktuell geht also absurderweise letztlich Juncker gegen Juncker vor. Der hat damit kein Problem, sieht keinen Interessenskonflikt, weil er sich nicht direkt einmischen werde in das Verfahren. Sollte in der Kommission über den Fall abgestimmt werden, will er jedoch als Vorsitzender dabei sein. Für ihn ist das keine Frage des Anstands, sondern selbstverständlich.“

Badische Zeitung (Freiburg)

Die „Badische Zeitung“ kommentiert das Geschehen um Juncker: „Das Parlament hingegen hat mit dem Neuen (Juncker) Großes vor und fasste ihn deshalb am Mittwoch mit Samthandschuhen an. Die Steuertricks aus der Zeit als Luxemburger Finanzminister und Regierungschef werden ihm verziehen – aber nur, wenn er sich nun zum Paulus wandelt und neue EU-Gesetze auf den Weg bringt, die alle Schlupflöcher wirksam verschließen. Dann sind die 28 Regierungen am Zug. Sie müssen beweisen, dass sie wirklich Steuergerechtigkeit wollen und sich nicht in Wahrheit lieber weiter mit Steuerdumping die Unternehmen gegenseitig abwerben würden.“

Rheinische Post (Düsseldorf)

Die „Rheinische Post“ hält die Vorgänge für eine Katastrophe für Juncker: „Jahrelang hat das kleine Herzogtum Luxemburg mit seinen 500 000 Einwohnern auf Kosten der übrigen 500 Millionen EU-Bürger gelebt. Es erfand komplizierte Steuersparmodelle für gut verdienende internationale Konzerne. Ikea, Amazon, Apple, Eon, die Deutsche Bank – alle interessierten sich plötzlich für das kleine Land, das von Jean-Claude Juncker regiert wurde. Es kann nicht sein, dass der frühere Luxemburger Premier und Finanzminister vom unmoralischen Angebot seines Landes nichts gewusst hat. Vielleicht hat er es selbst unterbreitet. Es mag ja alles legal gewesen sein, aber es bleibt ein Skandal, dass der überzeugte Europäer in Brüssel zu Hause eben doch kein so überzeugter Europäer gewesen ist. Dass er wegen dieses Skandals nun bereits eine Woche nach seinem Amtsantritt als EU-Kommissionspräsident mit dem Rücken zur Wand steht, ist eine Katastrophe. Nicht nur für Juncker persönlich, sondern für die EU insgesamt. Denn gerade erst startete Juncker mit frischem Elan, guten Vorschlägen und einem interessanten Team. Diese Geschichte nimmt ihm jetzt allen Wind aus den Segeln.“