Kirchentagspräsident Hans Leyendecker „Ich fürchte mich weniger vor Gott als vor Fundamentalisten“

Seit 1975 Kirchentagsbesucher und im Jahr 2019 Kirchentagspräsident: der Journalist Hans Leyendecker Foto: dpa

Hetze habe auf dem Evangelischen Kirchentag nichts zu suchen, sagt der Kirchentagspräsident Hans Leyendecker. Deshalb seien keine Vertreter der AfD nach Dortmund eingeladen worden.

Stuttgart - Mehr als 100 000 Gäste werden beim Deutschen Evangelischen Kirchentag erwartet, der am Mittwoch in Dortmund beginnt. Präsident ist der Journalist Hans Leyendecker (70). Der gebürtige Rheinländer wechselte vor Jahrzehnten von der katholischen zur evangelischen Kirche.

 

Herr Leyendecker, was bringt einen Journalisten und ehemaligen Katholiken dazu, Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchentags zu werden?

Die Begeisterung. Seit 1975 war ich mit meiner Frau, einer engagierten Protestantin, immer auf dem Kirchentag. Für mich sind Kirchentage eine Tankstelle, man trifft engagierte und fröhliche Menschen, man betet und kehrt beschwingt zurück. Dort werden viele gesellschaftlichen Diskussionen geführt, aber er ist auch ein Glaubensfest.

Erstmals gibt es beim Kirchentag ein Zentrum des Sports. Braucht es solche Anreize?

Dortmund ist eine Stadt des Sportes, und die Westfälische Landeskirche als gastgebende Kirche wollte diesen Teil einbeziehen. Da finden spannende Veranstaltungen statt, die viel mit dem Thema des Kirchentags – Vertrauen – zu tun haben. Die Reduzierung der Kirche auf nur Glauben oder nur gesellschaftliche Verantwortung ist zu wenig. Wir brauchen Glauben, Engagement und Spaß. Außerdem hat Sport viel mit den Grundfragen von Menschen unserer Zeit zu tun: Wie viel kann ich leisten? Wie bleibe ich gesund? Was bin ich alles bereit für Erfolg zu opfern? Wie gehe ich mit Scheitern um? Was verbindet Menschen und ermöglicht Gemeinschaftserfahrungen?

Was für ein Vertrauen – was bedeutet die Losung des Kirchentags in dieser unberechenbaren Zeit?...

Die Rückkehr von Autokraten und Nationalisten hat mich verblüfft. Manche Ängste sind mit Blick auf Globalisierung und Digitalisierung verständlich, die Probleme allerdings nicht durch Gewalt oder Ausgrenzung lösbar. Die Demokraten müssen sich zusammentun. Wir sollten uns auch mehr darauf besinnen, was gut ist. In Dortmund haben wir deshalb ein Zentrum der guten Nachrichten eingerichtet.

Können Sie Beispiele nennen?

Dass sich in Deutschland etwa zwölf Millionen Menschen ehrenamtlich engagieren. Dass uns die jungen Menschen in der Klimafrage, über die wir seit Jahrzehnten diskutieren, wachrütteln. Wir zeigen, dass sich vieles in der Welt verbessert hat, ohne die Probleme wegzureden. Ich freue mich auch, dass der Bundespräsident und seine drei Vorgänger kommen – sie sind Brückenbauer.

Christian Wulff musste zurücktreten...

Der Fall Wulff ist ein Beispiel, was Journalismus nicht darf: Er darf nicht jagen und jemanden fertigmachen wollen. Von den Vorwürfen gegen Wulff ist nichts geblieben. Wer hat sich bei ihm entschuldigt?

Aufgrund Ihrer Berichterstattung musste unter anderem Ministerpräsident Lothar Späth zurücktreten…

Wir haben damals sehr privat und intim über ihn berichtet, das würde ich heute nicht mehr so machen. Man ist jung, man hat Erfolg und findet ihn auch gut. Die Schwächen dieses Erfolges sind mir erst später deutlich geworden. Deshalb ist es mir wichtig, darüber zu sprechen, gerade mit jungen Menschen.

Auch die Kirchen haben viel Vertrauen verspielt – durch den Missbrauch und auch den Umgang damit.

Der Missbrauch zieht den Kirchen den Boden weg. Sie müssen die Fälle vollständig aufklären und die Opfer in den Mittelpunkt stellen.

Was können die Kirchen tun, um die Spaltung der Gesellschaft zu überwinden?

Die Kirchen haben das Wort Gottes zu verkünden, und sie müssen sich den gesellschaftlichen Herausforderungen widmen, den Schwachen und Erniedrigten, der Menschenwürde und der Bewahrung der Schöpfung. Sie sind aber nicht Resonanzboden für eine politische Partei.

Die AfD klagt, dass sie anders als 2017 nicht eingeladen wurde. Warum nicht?

Wegen der Radikalisierung der AfD, die zugenommen hat. Wir erleben heute, dass AfD-Mitglieder mit Neonazis und Identitären aufmarschieren oder Parteifreunde stützen, die heimlich oder offen Rassisten sind. Der Kirchentag ist entstanden als Reaktion auf das Versagen der Kirchen im Faschismus. Hetze hat auf unseren Podien nichts zu suchen.

Ein gemeinsames Abendmahl von Protestanten und Katholiken wird es auch diesmal nicht geben, weil die katholische Kirche das nicht erlaubt. Welche Perspektive hat die Ökumene?

Ich bin vor Jahrzehnten zum Protestantismus konvertiert, weil ich eine Protestantin geheiratet habe. Ich kann Weihrauch gut riechen, aber die Freiheit eines Christenmenschen ist mir wichtig. Ich hoffe, dass Frauen in der katholischen Kirche Weiheämter bekommen werden. Auch denke ich, dass die Not die beiden Volkskirchen zusammenbringen wird – bis 2060 rechnen Wissenschaftler mit einem Mitgliederrückgang von 50 Prozent. Dazu gehört auch die Hoffnung auf das gemeinsame Abendmahl.

Welche Rolle spielt der interreligiöse Dialog?

Die Gespräche mit Juden, Muslimen, Vertretern anderer Religionen und auch Agnostikern gehören zu den Kernpunkten der Kirchentage – diese Gespräche fördern das gegenseitige Verstehen. Ich bereite mit der Journalistin Anja Reschke eine Bibelarbeit über Abraham und Isaak vor. Abraham spielt für Juden, Christen und Muslime eine große Rolle. Es ist wichtig, das Verbindende zu sehen – und auch das, was schwierig ist. Ich fürchte mich weniger vor Gott als vor den Fundamentalisten in den Religionen.

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