Nach dem Fabrikunglück in Bangladesch steigt die Zahl der geborgenen Todesopfer auf mehr als 400, Hunderte werden weiterhin vermisst. Die Proteste im Land nehmen zu, die EU erwägt Handelsbeschränkungen. Ein Bericht der StZ-Korrespondentin Christine Möllhoff.

Dhaka - Mehr als 400 Menschenleben hat das größte Industrieunglück in der Geschichte des südasiatischen Landes gefordert. Und noch immer werden Hunderte von Arbeitern vermisst. Mit bloßen Händen, mit Schaufeln und Bohrern hatten die Retter zweieinhalbtausend Überlebende aus den Ruinen befreit. Doch am Montag rückten Rettungsteams mit schwerem Gerät und Kränen an, um die riesigen Mauerteile zu heben. Die Helfer bergen jetzt nur noch Leichen. Zur Stunde des Unglücks sollen mehr als 3000 Menschen in den fünf Fabriken des achtstöckigen Gebäudekomplexes Rana Plaza 30 Kilometer vor den Toren der Hauptstadt Dhaka Kleider gefertigt haben, unter anderem für den spanischen Moderiesen Mango. Der irische Textildiscounter Primark hat unterdessen angekündigt, die Familien der Opfer zu entschädigen. Die Firmen C&A und Kik hatten erklärt, ihre Geschäftsbeziehungen zu einem Lieferanten, der in dem Haus produzierte, vor wenigen Jahren beendet zu haben.

 

Die Trauer in Bangladesch ist in Wut umgeschlagen. Näherinnen und Näher protestieren, vor allem am Textilstandort Gazipur kam es zu Aufständen. Demonstranten demolierten Autos und setzen einen Krankenwagen in Brand. Die Polizei schoss mit Tränengas und Gummigeschossen. Mindestens hundert Personen wurden bei den Krawallen verletzt. Die Behörden machten Hunderte von Textilfabriken dicht, um die Proteste zu ersticken. Die Opposition hat für heute zu einem landesweiten Streik aufgerufen.

„Hängt den Mörder“

Der Besitzer des Gebäude, der 30-jährige Sohel Rana, wurde gefasst, bevor er über die Grenze nach Indien fliehen konnte. Trotz massiver Risse in den Mauern hatte er das Gebäude für sicher erklärt und die Arbeiter in den Tod geschickt. „Hängt Rana, hängt den Mörder“, riefen Demonstranten auf den Straßen. Ihm drohen sieben Jahre Haft. Auch Ranas Vater Abdul Khalek und vier Fabrikbesitzer wurden verhaftet. Ein Gericht entschied, die Vermögen der Fabrikbesitzer einzuziehen und ihre Konten zu sperren.

Wie unzählige Gebäude war auch der Rana Plaza größtenteils illegal errichtet. Dies ist Usus in Südasien, wo es schneller geht, die Behörden zu schmieren, als einen Bauantrag genehmigen zu lassen. Medien berichteten zudem, Rana habe zu viel Sand in den Beton gemischt, um Geld zu sparen. Auch dies ist üblich und macht viele Gebäude zu potenziellen Todesfallen. Obendrein setzte Rana dann noch drei weitere Stockwerke auf das marode Gebäude. Auch dies kein Einzelfall.

Enge Verflechtungen mit der Politik

Zu welcher Strafe der Bauunternehmer am Ende auch immer verurteilt wird, an den Grundproblemen wird das wenig ändern. Es gibt hunderte von Ranas in Bangladesch. Die Textilindustrie weist teilweise mafiöse Züge auf und hat enge Verflechtungen mit der Politik, die ihre schützende Hand über sie hält. Auch Rana war politisch aktiv, angeblich abwechselnd für eine der beiden großen Volksparteien.

Die Textilindustrie ist Bangladeschs wichtigster Wirtschaftszweig. Die Branche beschäftigt fast vier Millionen Menschen, darunter viele Frauen, und setzt 20 Milliarden Dollar im Jahr um. Bangladesch ist der zweitgrößte Textilexporteur nach China. Das Land bietet den Westfirmen fast konkurrenzlos niedrige Löhne. Manche Näherinnen verdienen weniger als 30 Euro im Monat. Fabrikunglücke sind Alltag. Bangladesch ist für seine Gebäudemängel und seine schlechte Arbeitssicherheit berüchtigt. Zuletzt kamen im November bei einem Fabrikbrand 112 Menschen ums Leben. Dennoch weigern sich die großen West-Konzerne bis heute, einem nationalen Sicherheitsplan der Gewerkschaften zuzustimmen. Aktivisten sehen die Textilketten in der Pflicht. Diese müssten ihre Macht nutzen, um die Besitzer zu zwingen, für mehr Arbeitssicherheit zu sorgen.

Die Europäische Union erwägt laut einer Erklärung von Dienstagabend, Handelsvergünstigungen für Bangladesch zurückzunehmen, sollten die Arbeitsbedingungen nicht verbessert werden. Derzeit erhebt die EU als größter Handelspartner keine Zölle auf die meisten im Land gefertigten Produkte.