Rockfestivals waren mal laut, dreckig und wild. Heutzutage kauft sich der luxusverwöhnte Besucher Wlan, Holzhütte und Stromanschluss zum Ticket dazu. Eine Bestandsaufnahme zum Start der Festival-Saison 2014.

Digital Desk: Jan Georg Plavec (jgp)

Stuttgart - Woodstock war eine Riesensauerei. Das bekannteste aller Rockfestivals wurde von Regengüssen überschwemmt, und weil die wenigsten Besucher auch nur annähernd adäquat ausgerüstet waren, glich das Festivalgelände rasch einer Mischung aus Schlachtfeld, Matschgrube und Müllhalde. Mittendrin: eine halbe Million junge Erwachsene, für die keine Regeln mehr zu gelten schienen. Ob es genau so war oder nur ein bisschen: Neben der Musik haben auch die Umstände des Festivals zum Legendenstatus von Woodstock beigetragen.

 

Festivals sind dreckig und laut, ihre Besucher leben während der Festivaltage außerhalb gesellschaftlicher Konventionen: Wer noch nie auf einem Festival war, glaubt, dass es bis heute so ist. Das Rock’n’Roll-Image überträgt sich bis heute von den Festivals auf ihre Besucher. Nur: Mit der Wirklichkeit hat das immer weniger zu tun. Festivals sind nicht mehr laut, sie sind nur noch ein bisschen dreckig, und wild geht es dort meist auch nicht mehr zu.

Laut, dreckig, wild? Sicher nicht

Thema Lautstärke: Für Festivals wie für alle anderen Livekonzerte gibt es eine per DIN-Norm mit Gesetzescharakter geregelte Obergrenze bei der Lautstärke.

Thema Dreck: Viele Festivalveranstalter teilen Mülltüten aus – mit Pfand. Man bekommt es nur gegen eine gefüllte Tüte zurück. Es gibt Mülltrennung, die Bahnfahrt zum Festival ist inklusive. Die Hygienebereiche wachsen von Jahr zu Jahr. Dixie-Klos gehören weiterhin dazu, doch kein größeres Festival verzichtet noch auf WCs oder Warmwasserduschen. Die Besucher erwarten das, „und die technischen Entwicklungen sind auch viel weiter“, sagt Benjamin Hetzer von der Konzertfirma FKP Scorpio, die auch das Southside Festival in Neuhausen ob Eck veranstaltet.

Thema wild: Seit einigen Jahren gibt es auf so gut wie allen größeren Festivals eigene Campingbereiche für jene Besucher, die es lieber ruhig haben. Wobei auch auf dem „normalen“ Campingplatz ausschweifende Partys längst die Ausnahme sind. Wohlgemerkt: Es geht hier um Rockfestivals, bei denen mehrere Zehntausend Besucher unter freiem Himmel vor riesigen Bühnen zusammenkommen und auf der Wiese ihr Zelt aufbauen.

Die Hauptzielgruppe: Generation Smartphone

All diese Entwicklungen hin zu einer Zivilisierung (man könnte auch sagen „Verbürgerlichung“) der Open-Air-Kultur sind nicht schlimm. Aber es sind Veränderungen, die ihre Gründe haben: Festivals sind zu einem echten Massenphänomen geworden. Zu einem Produkt, das auch ganz durchschnittliche 16- bis 40-Jährige ansprechen soll. Und unter der Masse der Mainstreambesucher finden sich eben auch etliche, die keine Lust auf Schlepperei, Isomatte und Raviolidose haben.

Der Festivalmarkt ist gewachsen. Das liegt unter anderem daran, dass Festivals bei Jugendlichen beliebt sind – und dass die Veteranen immer noch kommen. „Einstellungen wie ‚Ich bin auf einem Festival und nicht im Luxusurlaub’ sind uns natürlich bekannt und auch vollkommen legitim“, sagt Benjamin Hetzer von FKP Scorpio. „Aber wenn es bezahlbar ist, möchten sich auch diese Besucher nach ihren Maßstäben das Leben leichter machen.“ Die Generation Smartphone sei die Hauptzielgruppe der meisten ihrer Festivals.

Mobiles Netz als Thema Nummer eins

Zum Bemühen um entschärfte Bedingungen zählt für die Generation Smartphone die Versorgung mit mobilem Internet. Das leisten unter anderem die mobilen Hotspots der Firma Festival-Wlan. Die braucht es, weil Festivals oft auf dem Land stattfinden, wo das Netz schnell überlastet ist – so wie auf dem Southside-Festival oder das Chiemsee Summer Festival.

Auf diesen und weiteren Festivals war die Firma, deren Gründer Jens Müller sich als Pionier auf diesem Gebiet bezeichnet, 2013 präsent. Deutsche Festivals seien, von Ausnahmen wie dem Metalfestival Wacken abgesehen, in Sachen Wlan Nachzügler, so Müller: „Auf vielen großen europäischen Festivals gibt es längst Wlan – und zwar gratis. Das ist wie auf dem Flughafen, keiner zahlt dafür.“

Doch es geht noch grundlegender: Handyladestationen gehören längst zur Standardausstattung jedes Festivals. Weil oft kein Stecker frei ist, vermieten Dienstleister übergroße Akkus, an die man das Smartphone anschließen kann. Rock’n’Roll auf dem Festival heißt heutzutage insofern eher, dass der Akku leer ist und man mal zwei Tage offline ist. Wie verwegen!

Mein Zelt steht schon

Das Bemühen um neue Zielgruppen beschränkt sich nicht allein auf Services rund ums Smartphone. Fast noch wichtiger ist das Thema Unterkunft. Auf der Website des Southside Festivals sorgt man sich daher auch um all jene Zahlungswilligen, die „keine Lust auf Matsch, Müll, Party all night long und langes Anstehen an den Duschen“ haben. Das Angebot: ein Hotel in Singen am Bodensee, samt Shuttleservice vom und zum Festivalgelände. Kosten: ab 240 Euro.

Es gibt noch mehr. Beim Melt-Festival nahe Dessau kann der an Komfort gewöhnte Besucher in eigens errichteten Holzhütten übernachten – oder er wählt den seit Jahren auch bei anderen Festivals angebotenen Service mit dem sich selbst erklärenden Namen „Mein Zelt steht schon“. Und wer nicht nur sein Handy, sondern auch den Elektrogrill, die Stereoanlage und eine Lampe ans Stromnetz hängen will, dem bieten die Veranstalter des 2013 erstmals ausgerichteten Festivals Rock’n’Heim Zugriff auf Steckdosen an – nämlich im „Preferred Camping“-Bereich des Zeltplatzes. All das gibt es natürlich nicht nur, weil Festivalveranstalter auch komfortverwöhnte Besucher ansprechen wollen, denen Festivals bisher zu dreckig waren. Die kostenpflichtigen Extras sind auch für Festival-Veteranen gemacht, die jenseits der dreißig, für ein Festival aber noch nicht zu alt sein wollen. „Ihr gehört nicht mehr vollends zum jungen Gemüse und wollt mit eures gleichen gemütlich das Festival verbringen?“, spricht das österreichische Frequency Festival diese Zielgruppe direkt an. Die Lösung: das „Comfort Ticket“. Für sechzig Euro Aufpreis sind geboten: eine separate Bar mit Wlan, eine Überholspur beim Einlass, Luxuszelte, ein bewachter Campingplatz und eine Aussichtsplattform über dem Festivalgelände.

„Anything goes“: Das gilt auf Festivals immer noch, aber vielleicht in einem anderen Sinn. Gewisse Grenzen gibt es dennoch. Wer eines der 135 000 Tickets für das britische Glastonbury-Festival ergattern konnte und auf der Website begeistert den Punkt „Hochzeit“ anklickt, wird enttäuscht. Leider gestatte es das britische Gesetz nicht, auf dem Festivalgelände zu heiraten.

Zahlen und Fakten zum Festivalmarkt

Bereits um 1970 gab es große Open Airs auch in Deutschland mit Beteiligung prominenter internationaler Bands. Der Konzerveranstalter Fritz Rau veranstaltete 1980 am Nürburgring dann das erste große Open Air mit Bands aus Deutschland, das sich mit den US-Vorbildern messen konnte. In der Folge nahm die Zahl der Festivals immer weiter zu.

2013 ist der Konzertveranstalter Marek Lieberberg mit dem Rock’n’Heim-Festival am Hockenheimring an den Markt gegangen. In Deutschland gibt es gut ein Dutzend Festivals mit 20 000 oder mehr Besuchern. Zu den größten zählen Rock am Ring (85 000 Besucher), das Zwillingsfestival Southside / Hurricane (insgesamt 133 000) sowie das Metalfestival Wacken (80 000). Um die 20 000 Besucher haben etwa die Festivals Melt, Highfield oder Taubertal. Kommendes Wochenende beginnt mit Rock am Ring / Rock im Park die Open-Air-Saison 2014.

Von den 2,3 Milliarden Euro, die 2012 mit Musikveranstaltungen umgesetzt wurden, stammen laut einer Studie des Bundesverbands der Veranstaltungswirtschaft 317 Millionen von Musikfestivals – das ist der zweithöchste Wert. 2009 lagen Festivals mit 252 Millionen Euro Umsatz noch auf Platz fünf. Festivals sprechen laut der Studie überdurchschnittlich viele Besucher zwischen 20 bis 29 Jahren an. Doch immerhin jeder vierte Besucher ist zwischen 30 und 49. Jahren.