Jüngere Forschungsarbeiten räumen mit althergebrachten Vorstellungen über das mittelalterliche Leben auf. Wie haben die Menschen in dieser Zeit gedacht und empfunden? Auf diese Frage gibt es inzwischen neue Antworten.

Stuttgart - Das Mittelalter genießt bis heute keinen guten Ruf. Gilt es doch als dunkles, finsteres Zeitalter, in dem die Menschen emotional roh und geistig ein wenig unterbelichtet waren. Historische und soziologische Deutungen bis weit in das 20. Jahrhundert hinein haben daran keinen geringen Anteil. In seinem Buch „Geschichte der Kindheit“ argumentierte beispielsweise der französische Historiker Philippe Ariès (1914–1984) wirkmächtig, eine intensive emotionale Bindung zum Nachwuchs, wie sie für uns heute selbstverständlich ist, habe es damals nicht gegeben.

 

Doch Historiker wie der deutsche Mittelalterexperte Albrecht Classen von der University of Arizona zeigen mittlerweile, dass das so nicht richtig ist: „Wo immer wir hinschauen, bergen mittelalterliche Quellen und Dokumente eine Fülle von Informationen über intime Beziehungen zwischen Eltern und Kindern“, schreibt Classen in einem Aufsatz. Diese Quellen belegten die große Sorge um die Kinder während des gesamten Mittelalters und der Frühen Neuzeit, die Philippe Ariès meist vernachlässigt oder überhaupt nicht wahrgenommen habe.

So wenig Liebe die Menschen des Mittelalters angeblich gegenüber ihren Kindern verspürt haben sollen, so kindlich sollen sie selbst in gewisser Weise gewesen sein. Denn ähnlich wie Kinder sollen auch gestandene Erwachsene Emotionen wie Aggressionen viel unmittelbarer ausgelebt haben. Dem berühmten Soziologen Norbert Elias (1897–1990) zufolge haben die Menschen erst im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit zunehmend ihre Triebe und Emotionen kontrolliert. Doch Forscher, die sich mit dem recht neuen Zweig der Emotionsgeschichte beschäftigen, winken heutzutage bei dieser einflussreichen These meist ab. „Das haben Mittelalterhistoriker endgültig widerlegt“, sagt etwa der Historiker Jan Plamper vom Londoner Goldsmiths College, „die Vorstellung, dass Menschen im Mittelalter kindliche und emotional unkontrollierte Wesen waren, stimmt einfach nicht“, so der Autor des Buches „Geschichte und Gefühl.“

Ritter weinten vor ihren Königen

Auch im Mittelalter waren Emotionen an Normen gebunden. „Es war etwa geschlechterabhängig, wer in welcher Situation weinen durfte“, so Jan Plamper. Historiker wie Gerd Althoff konnten zudem zeigen, dass im Mittelalter Emotionen vielfach für einen ganz bestimmten Zweck eingesetzt wurden. Sie dienten etwa dazu, Hierarchien zu markieren. So weinten beispielsweise Ritter vor ihren Königen, um die hohe Position des Königs zu kennzeichnen.

Allerdings waren die Emotionen im Mittelalter vermutlich teilweise anders beschaffen. Die Historikerin Ute Frevert, Direktorin des Forschungsbereiches „Geschichte der Gefühle“ am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, förderte bei ihren Forschungen ein Gefühl zutage, das es so heute nicht mehr gibt. Im Mittelalter verspürten Menschen mitunter „acedia“, eine Trägheit des Herzens, die als Todsünde galt. „Diese Emotion darf man nicht einfach gleichsetzen mit Melancholie oder Depression“, betont Jan Plamper. „Denn erstens war die Ursache immer im Spirituellen, Metaphysischen angesiedelt, etwa als eine Bestrafung durch Gott.“ Die Ursache lag also nicht, wie wir heute denken würden, in der Psyche oder dem Gehirn. „Und zweitens waren die Symptome andere. Die Betmüdigkeit von Mönchen galt als untrügliches Zeichen für acedia.“

Um neben dem Fühlen auch das Denken von Menschen aus weit entfernten Zeiten zu rekonstruieren, greifen Forscher auf Vergleiche zwischen Kulturen aus unserer heutigen Zeit zurück. So ist aus der kulturvergleichenden Psychologie bekannt: Menschen aus kollektivistischen Kulturen, bei denen die Gemeinschaft mehr zählt als der Einzelne, betrachten eher das große Ganze als Menschen aus individualistischen Kulturen. Nun hatte im Mittelalter die Gemeinschaft einen viel höheren Stellenwert als im heutigen Europa. Der Psychologin Andrea Bender von der norwegischen Universität Bergen zufolge kann man daher durchaus annehmen, dass die Tendenz zu ganzheitlichem Denken auch im Mittelalter ausgeprägter war. Sie nennt ein Beispiel: „Bei Fragen danach, warum Menschen sich auf eine bestimmte Weise verhalten, tendieren Menschen aus kollektivistischen Kulturen dazu, anderen in geringerem Ausmaß persönliche Verantwortung zuzuschreiben. Sie sehen stärker die Umstände und die Gruppe als mitverantwortlich an und reagieren in der Folge auch mit weniger personenbezogenem Ärger.“ Wir hingegen in unserer heutigen individualistischen Kultur ziehen vielmehr den Einzelnen und seine Beweggründe zur Verantwortung.

Weniger fundiertes Wissen

In vielen Bereichen kann man davon ausgehen, dass das Wissen im Mittelalter weniger umfangreich und fundiert war. Das habe Folgen für die Problemlösestrategien gehabt. „So unterschied sich beispielsweise die Behandlung von Kranken damals dramatisch davon, was wir heute für sinnvoll halten.“ Man denke an den berühmt-berüchtigten Aderlass, den Ärzte bis ins 19. Jahrhundert hin ihren Patienten verordneten, um das Gleichgewicht der Körpersäfte wiederherzustellen.

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Umgekehrt gab es jedoch auch Bereiche, in denen der Durchschnittsmensch im Mittelalter deutlich fundierteres und detaillierteres Wissen hatte als der heutige. „Man denken nur an alte Handwerkstechniken und -künste, von denen einige bereits nahezu ausgestorben sind“, sagt die Psychologin Bender. „Oder an Erfahrungen aus dem Leben mit und in der Natur, die uns heute oft nützlich sein könnten.“ Keine Frage: Die Menschen im Mittelalter haben vielfach anders gedacht und gefühlt als wir heute. Doch sie waren uns ähnlicher, als wir heute gerne denken.