Mit Ungarn übernimmt bald ein scharfer EU-Kritiker und eine Autokratie den Vorsitz des Rates der Europäischen Union. Wie viel Macht bekommt Viktor Orbán damit – und was ist von Ungarn zu erwarten? Die wichtigsten Fragen und Antworten.

Titelteam Stuttgarter Nachrichten und Stuttgarter Zeitung: Jana Gäng (jkg)

Im Juli übernimmt Ungarn den Vorsitz im Rat der Europäischen Union. Damit steht erstmals eine Autokratie an der Spitze eines wichtigen EU-Organs - zum Entsetzen von Teilen des EU-Parlaments. Das stimmte 2023 für eine Resolution, die Ungarns Fähigkeit zu einer glaubwürdigen Ratspräsidentschaft anzweifelt.

 

Die Kritik blieb ohne Folgen. Was ist vom ungarischen Ratsvorsitz zu erwarten?

Welche Macht hat der Ratsvorsitz?

Im Rat der EU sitzen die Fachminister der Mitgliedsstaaten. Er ist mit für die Gesetzgebung zuständig. Alle sechs Monate hat ein anderer Mitgliedsstaat den Vorsitz, der Treffen leitet und vorbereitet - inklusive der Tagesordnung. „Damit kann der Vorsitz Themen nicht entscheiden, aber sie verzögern oder priorisieren“, sagt Sonja Priebus, die an der Europa-Universität in Frankfurt-Oder zum politischen System Ungarns forscht. Außerdem verhandelt der Vorsitz für den Rat die Gesetze. Schließlich soll er bei Konflikten zwischen den Mitgliedsstaaten vermitteln. Die Ratspräsidentschaft ist also mehr als Symbolik. Gleichzeitig wird ihre Macht beschränkt: Weder kann der Rat Gesetze vorschlagen noch Prioritäten der EU festlegen. Mit dem Juli beginnt Ungarns Vorsitz zudem nach der Europawahl, wenn wenige Gesetzesvorhaben zu erwarten sind.

Warum gibt es Kritik am ungarischen Vorsitz?

Zwischen Brüssel und Ungarn herrscht Eiszeit. Tiraden gegen die EU gehören zu Viktor Orbáns politischer Strategie. Systematisch baut seine Regierung die Demokratie in Ungarn ab. Die Europäische Kommission gefror Fördergelder in Milliardenhöhe ein und initiierte ein Verfahren gegen das Land, weil es gegen Grundwerte der EU verstoße. Immer wieder blockiert der russlandnahe Orbán EU-Vorhaben – besonders Unterstützung für die Ukraine. „Erstmals wird mit Ungarn eine Autokratie eine Union führen, die sich als demokratische Gemeinschaft versteht. Das schmälert die Glaubwürdigkeit der EU“, sagt Priebus. Unklar sei, wie Ungarn seine Aufgaben erfüllen will: „Als Vermittler müsste Ungarn Eigeninteressen zurückstellen. Doch das Land präsentiert sich konfrontativ, ist unter den Mitgliedern weitgehend isoliert.“ Der EU-Abgeordnete Daniel Freund (Grüne) befürchtet, dass sich Ungarn bei Migration, Klima oder Ukraine von Eigeninteressen leiten lasse, Themen verschleppe. Priebus betont den Imageschaden: „Inhaltlich dürfte das Problem nicht ganz so groß werden.“

Was sagt Ungarn?

Die Resolution des Parlaments sei „Unsinn“, sagte Judit Varga, damals Justizministerin Ungarns. Ungarn sei empathisch für die Probleme anderer und werde als Vermittler moderieren, widerspricht auch der Politologe Zoltán Kiszelly Zweiflern. Kiszelly arbeitet für die Századvég-Stiftung in Budapest, die Orbáns Fidesz-Partei nahestehen soll. „In Ungarn gibt es das Narrativ, es handele sich bei Kritik an der Ratspräsidentschaft um linksliberale Kräfte, die Ungarns Migrationspolitik abstrafen“, sagt Priebus.

Hätte der ungarische Vorsitz gestoppt werden können?

Ja. Der Europäische Rat, also die Regierungschefs der Mitgliedsstaaten, hätte eingreifen können, so Priebus: „Mit einer qualifizierten Mehrheit hätte man die Reihenfolge des Vorsitzes ändern können.“ Auch eine Klausel sei denkbar, die Staaten vom Vorsitz ausschließt, gegen die ein EU-Verfahren läuft. Eine offizielle Debatte des Rats dazu habe es aber nie gegeben, sagt Freund: „Wenige Mitgliedsstaaten waren bereit, etwas zu unternehmen.“ Priebus vermutet, dass das an Sorgen vor einem Präzedenzfall und Konflikten mit Ungarn liegt: „Es hätte rechtliche und politische Probleme geben können. Die Mitgliedsstaaten sind in Entscheidungen aber auf Ungarn angewiesen.“

Was plant Ungarn?

„Mit der Ratspräsidentschaft wird Ungarn mittel- und südosteuropäische Themen auf die Agenda bringen“, erklärt Zoltán Kiszelly. Bislang hat Ungarn vier Themen priorisiert: Wettbewerbsfähigkeit, demografische Herausforderungen („gemeint ist die Idee, dass Europäer mehr Kinder bekommen“, erklärt Priebus), EU-Erweiterung auf dem Westbalkan und Sicherung der Außengrenzen. „Ungarn wird zeigen, dass es eine Alternative zum Brüsseler Mainstream anbietet“, erklärt Kiszelly - ob es um Migration, christliche Werte oder die Zusammenarbeit mit Russland gehe. „Allein kann Ungarn keine Gesetze durchbekommen. Die Präsidentschaft ist ein Mittel, Allianzen zu bilden“, sagt Kiszelly. Auch Freund erwartet, dass Ungarn um Verbündete für eine rechtsnationale Vision Europas werben wird und die eigene Rolle zu normalisieren versucht.

Wird Ungarn auf Konfrontation mit der EU gehen?

Sich als Alternative zu präsentieren, bedeute keinen Konfrontationskurs, sagt Kiszelly: „Ungarn kann ein Gegengewicht mit Allianzen statt Streit aufbauen.“ Überzeugt ist Priebus davon nicht: Orbán könne seine Anti-Brüssel-Rhetorik nicht ablegen, ohne Wähler zu verlieren. Entscheidend könnte das Ergebnis der Europawahl sein, sagt sie: „Ein Rechtsrutsch würde Orbán Rückendeckung für einen extremeren Kurs geben.“