Was hat den Krieg in Südisrael ausgelöst? Wer ist die Hamas, woher kommt der Hass, und wie begann das alles? Fragen rund um den Nahost-Konflikt hier in kompakter Form.

Seite Drei: Dieter Fuchs (fu)

Mit dem Krieg zwischen Hamas und Israel hat am Samstag eine neue Runde im Jahrzehnte währenden Nahost-Konflikt begonnen. Dieser Angriff könnte die gesamte Region in Flammen setzen mit Folgen für die ganze Welt.

 

Warum hat die Hamas Israel angegriffen?

Ziel der Hamas ist es, mit Terroraktionen das Sicherheitsgefühl des israelischen Staates zu erschüttern, damit die israelische Politik zu beeinflussen und die eigenen Anhänger davon zu überzeugen, dass die Hamas die Sache der Palästinenser am radikalsten vertritt. Den Zeitpunkt ihres Angriffes am Samstag hat die Hamas vermutlich aus drei Gründen gewählt: Israel als stärkste Militärmacht der Region macht in diesen Monaten den Eindruck, die Hamas und den Gazastreifen insgesamt eher wenig zu beachten beziehungsweise zu kontrollieren. Daneben fanden bis zum Samstag Verhandlungen zwischen Israel und Saudi-Arabien statt über eine Normalisierung der gegenseitigen staatlichen Beziehungen, die die Hamas unbedingt stören will. Ein Frieden zwischen Saudis und Israelis würde die Hamas und ihren Hauptunterstützer Iran sehr schwächen. Zum dritten spekulierte die Hamas womöglich darauf, dass die Anstrengungen der internationalen Gemeinschaft im Ukrainekrieg diese überfordern könnte, einen weiteren großen, global relevanten Konfliktherd zu bewältigen.

Warum erschien der Hamas dieser Moment als günstig um zuzuschlagen?

Zum einen ist die israelische Gesellschaft seit Monaten tief gespalten über die Frage, welche Macht das Oberste Gericht in Zukunft haben soll. Die extrem konservative Regierung unter Benjamin Netanjahu will diese Macht begrenzen. Praktisch alle gesellschaftlichen Gruppen haben sich in diesem Ringen positioniert, von den Gewerkschaften bis zur Armee. Regelmäßig kommt es zu Massendemonstrationen, Streiks und anderen Protestformen. Es gab bis zum Samstag sogar Reservistenverbände, die damit drohten, den Befehl zum Armeedienst zu verweigern.

Hat sich Premier Netanjahu zu sehr auf den Schutz der Siedler in der Westbank konzentriert? Foto: Pool EPA/Abir Sultan

Zum anderen ist die Armee schon seit Monaten mehr als üblich im zweiten Siedlungsgebiet der Palästinenser auf israelischem Gebiet, der Westbank, gebunden, um die Siedler dort zu schützen und Angriffe palästinensischer Extremisten zu verhindern. Viele Siederaktivitäten, von der Regierung Netanjahu vorangetrieben, sind international sehr umstritten. Medienberichten zufolge wurde die Division, die die Südgrenze Israels zum Gazastreifen länger gesichert hat, in die Westbank versetzt, was die aktuelle Schwäche der Armee in dieser Region mit erklären könnte.

Wer ist die Hamas?

Die Hamas ist eine radikale muslimische und antisemitische Organisation, die Terror als legitimes Mittel zur Erreichung ihre Ziele begreift. Sie will unter anderem den Staat Israel vernichten und stattdessen einen islamischen Staat errichten. Sie ist unterteilt in einen militärischen Arm, der die meisten Terrorakte verübt, eine politische Partei und ein Hilfswerk für alle sozialen Belange. Sie versteht sich als einzig wahre Vertretung des palästinensischen Volkes. Ihre Partei nahm erstmals 2006 an demokratischen Wahlen in den palästinensischen Autonomiegebieten teil und gewann gegen die bis dahin unangefochtene politische Vertretung der Palästinenser, die Fatah. Die Fatah schwor in den 1990er Jahren dem Terror ab und wurde so zu einem Partner westlicher Staaten. Die Hamas hingegen wird international nicht als Palästinenservertretung anerkannt, weil sie offiziell Terrorismus gegen alle ihre Gegner ausübt. Innerhalb der arabischen Welt wird sie jedoch als Vertretung der Palästinenser anerkannt, weil die Methoden der Hamas dort als eine Art Notwehr gegen die israelische Übermacht angesehen werden. Nach den Wahlen 2006 versuchten Fatah und Hamas, das palästinensische Volk gemeinsam zu regieren. Man zerstritt sich und bekriegte sich jedoch. In der Folge teilten sich die zwei offiziellen palästinensischen Siedlungsgebiete, das Westjordanland, von der Fatah regiert, und der Gazastreifen in den Händen der Hamas, auf.

Kämpfer oder Terroristen?

Nach den Grundprinzipien der Weltgemeinschaft ist die Hamas eine Terrororganisation, demzufolge können alle ihre Kämpfer im Rahmen des westlichen Wertekanons als Terroristen bezeichnet werden. Für weite Teile der arabischen und auch in manchen anderen Teilen der größeren muslimischen Welt jedoch sind es Freiheitskämpfer, die mit allen Mitteln die israelische Herrschaft bekämpfen, die Tötung und Geiselnahme von unbewaffneten Zivilisten eingeschlossen. Der bewaffnete Arm der Hamas versteht sich auch deshalb als Armee, weil er, im Gegensatz zu anderen Terrororganisationen, offen gegen eine reguläre Armee kämpft. Weil eben Terror, also der rücksichtslose Einsatz von Gewalt ohne irgendeine Grenze oder Regel, um politischen Schrecken zu verbreiten, ein politischer Begriff ist, bietet sich eine alternative Definition an: Wer für die Hamas zu den Waffen greift, ist ein irregulärer Kämpfer, der grundsätzlich Kriegsverbrechen bis hin zum Völkermord mitträgt oder verübt. In diesem Kontext erscheint es legitim, in einem Text, der dies thematisiert, synonym den Begriff „militanter Kämpfer“ oder „extremistischer Kämpfer“ zu verwenden.

Woher rührt der Hass der Hamas?

Die Hamas lehnt die Werte und Grundprinzipien moderner westlicher Demokratien praktisch komplett ab. Schon die Teilnahme an der demokratischen Wahl 2006 war deshalb umstritten. Ihr Ideal ist, ähnlich wie bei der Terrororganisation Al-Kaida, ein islamistischer Staat nach den mittelalterlichen Regeln der Scharia. Hinzu kommt, dass sie das Elend der Palästinenser als einem Volk ohne eigenen Staat für sich nutzt und sich als Vertreter der Palästinenser den jüdischen Staat Israel zum Hauptfeind erkoren hat. Israel ist nach Ansicht der Hamas für das Elend der Palästinenser allein verantwortlich.

Warum ist diese Eskalation so gefährlich?

Im Hintergrund steht ein Machtkampf im Mittleren Osten. Die Hamas ist ein Werkzeug des Israelfeindes Iran, das Israel von Süden her bedroht. Eine zweite irreguläre Armee, die Hisbollah, steht im Libanon an der Nordgrenze zu Israel. Greift die Hisbollah von Norden an, droht Israel ein Zangenangriff. Der Iran als Drahtzieher hat umfangreiche Mittel, Hamas und Hisbollah militärisch zu unterstützen und könnte sogar direkt mit Raketen in einen Angriff auf Israel eingreifen. Dies wiederum würde Gegenschläge Israels und wahrscheinlich auch der USA zur Folge haben. Griffen auch noch die Golfstaaten ein, würde ein Flächenbrand im Nahen Osten entstehen, was auch die globale Energieversorgung auf Höchste gefährden würde. Solange die Hamas alleine kämpft, droht keine internationale Krise, aber auf jeden Fall ein Stillstand für alle Friedensbemühungen.

Wie ist der Nahostkonflikt entstanden, und welche Rolle hat der Gazastreifen?

Bis 1948 hatte das jüdische Volk in der modernen Geschichte keinen Staat. Aufgrund der Jahrhunderte langen Verfolgung der Juden, die in dem historisch einmaligen Völkermord der Nationalsozialisten gipfelte, half die Internationale Gemeinschaft dem jüdischen Volk, den Staat Israel zu gründen. Diese Staatsgründung jedoch verdrängte die bis dahin in der historischen Region Palästina, Kolonialgebiet von Großbritannien, gewachsenen Machtstrukturen der arabischen Bevölkerung. Und die wachsende Zahl der jüdischen Einwanderer verdrängte vielerorts palästinensische Anwohner.

Hinzu kommt, dass in diesem Gebiet eine Vielzahl religiöser Stätten existiert, die für Judentum, Christentum und Islam als heilig angesehen werden. Vertreter dieser Religionen kämpfen seit Jahrhunderten darum, diese Stätten zu beherrschen. Deshalb entbrannten nach der Gründung des Staates Israel mehrere Kriege, in denen arabische muslimische Armeen versuchten, den jüdischen Staat zu vernichten.

Die heiligen Stätten in Jerusalem, hier der Felsendom, sind seit Jahrhunderten umkämpft. Foto: AFP/AHMAD GHARABLI

Ursprünglich war von den Vereinten Nationen eine Teilung des Territoriums in einen jüdischen Staat und einen palästinensischen Staat vorgesehen. Doch im ersten Angriffskrieg arabischer Staaten gegen Israel 1948 eroberten die Juden 40 Prozent des theoretischen Staatsgebiets der Palästinenser. Hunderttausende Araber flohen, die meisten nach Jordanien. Zu einer international anerkannten palästinensischen Staatsgründung kam es in der Folge nicht. Das Westjordanland und der Gazastreifen sind territoriale Überbleibsel dieses Teilungsplans von 1948. Das Westjordanland wird noch immer de facto von Israel kontrolliert, die Fatah ist eine Operettenregierung. Den Gazastreifen hat Israel geräumt. Hier regiert die Hamas allein. Überlebensfähig als Staat ist keines der beiden Territorien. Sie sind von internationaler Hilfe abhängig.