Die Freimaurerin Helga Widmann strebt mit Verbündeten die Gründung neuer Frauenlogen in Stuttgart und Ulm an. Die Aufführung von Geheimritualen hält sie für gestrig – und setzt auf Videokonferenzen.

Politik/Baden-Württemberg: Rüdiger Bäßler (rub)

Lokalzeitung, Kleinanzeigenteil, Rubrik „Dies und Das“. Zwischen Offerten zur Anmietung einer Wander- und Skihütte, zum Kauf einer fast ungebrauchten Kfz-Kofferraumkunststoffwanne und einem feststehenden Wohnwagen mit Vorzelt ein ungewöhnlicher Fettdruck. „Freimaurerinnen Ulm“. Darunter, in Magerschrift, der Text „Wer sind wir? Was wollen wir? Sind Sie (weiblich) interessiert?“ sowie eine Einladung zum „nächsten offenen Gästeabend“.

 

Einige Tage später bei der Frau, die wesentlich hinter dieser Offensive steckt. Die Tür öffnet Helga Widmann, 72, sonnenbraunes Gesicht, wacher Blick, ein T-Shirt mit der Aufschrift „DON’T WORRY“. Fragen an Frau Widmann: Wer sind Sie? Und was wollen Sie? Arbeitskreise von Freimaurerinnen in Ulm und Stuttgart etablieren, antwortet sie. Und wenn das geklappt hat, zusammen mit „Schwestern“ möglichst zwei neue Frauenlogen in Form eingetragener Vereine gründen. Dann wären es, neben Mannheim, Konstanz und Reutlingen, fünf in Baden-Württemberg.

Kein Thron, kein Artus-Schwert, nirgends

Großzügiges, weitläufiges Wohn- und Esszimmer, kein Fernsehgerät, ein Lesesessel vor einer Bücherwand. Auf den Buchrücken stehen die Namen Russell, Sloterdijk, Kierkegaard, es gibt eine ganze Abteilung zur Soziologie, dazu Werke über die Tora, zur Geschichte und alter Handwerkskunst. Die Sammlung einer langjährigen Reutlinger Seminarschulrätin. Und zugleich der „Altgroßmeisterin der Frauengroßloge von Deutschland“, so lautet die korrekte vereinsinterne Bezeichnung. „Die machen bei uns so ein Theater um diese Posten“, sagt Helga Widmann abwehrend.

Verstohlen sucht das Auge des Besuchers Ecken und Wände nach Artus-Schwertern, Plastik-Totenköpfen, Masken, vielleicht einem goldlackierten kleinen Thron ab, aber es will sich nichts finden. Die Gastgeberin lenkt die Aufmerksamkeit stattdessen auf ihr Apple-Tablet und spielt darauf eine Präsentation ab, wie sie auch interessierte Frauen beim ersten Kontakt sehen können.

Denkarbeit ohne vorgegebene Agenda

Kein Handeln ohne moralischen Kompass, das würden auch politische Parteien, Religionsgemeinschaften oder Sozialvereine für sich annehmen, die auch alle weiblichen Nachwuchs suchen und dabei mit der Individualisierung der Gesellschaft, den Trends zur Selbstoptimierung und den geschrumpften Aufmerksamkeitsspannen in Zeiten von Social Media ringen. Aber der Ansatz der Freimaurerinnen, sagt ihre Vordenkerin, sei universeller, nicht zweckgebunden.

Helga Widmann hat viel geforscht über die Geschichte der Freimaurerei, manches publiziert. Die mit Freimaurern oft verbundenen Geheimrituale sind demnach erst im 18. Jahrhundert im Zuge der Aufklärung erfunden worden, mit dem Entstehen der Salonkultur und dem Aufkommen des Begriffs Freizeitgestaltung. Schweigegelübde, Lichtinszenierungen, Rosen, Bienenstöcke, die Verehrung ägyptischer Pyramiden, Probanden mit verbundenen Augen, der im Logenhaus residierende erhabene „Meister vom Stuhl“, das sei Teil der „Freizeitgestaltung“ meist besser gestellter Menschen gewesen, „denen stinklangweilig war“, so Widmann – und die sich eine „Ersatzwelt geschaffen“ hätten, oft, um der Einengung kirchlicher Dogmen zu entfliehen. „Irgendwann war das auch ein Werbetrick der Esoteriker.“

Die Gründerin der Frauenloge Reutlingen interessiert sich besonders für das frühe Mittelalter und die Entstehungszeit der Freimaurerei. Das war, als Bauspezialisten durch Europa zogen, um im Auftrag Kirchtürme, Klostermauern, Festungen oder Schlösser zu errichten – spezialisierte, weit umherziehende Arbeitsnomaden, die sich in privaten Zirkeln trafen und über die Zukunft ihrer Familien und Gewerke redeten, denen gelungene Architektur war, was auch menschliches Leben wesentlich mit ausmacht: Augenmaß, Proportion, Nachhaltigkeit, Umweltbezug.

Helga Widmann hat unter anderem Adolf Behne gelesen, den Architekten und Kunsthistoriker aus der Zeit der Weimarer Republik. „Architektur ist eine soziale Kunst“, schrieb Behne. Daran glaubt auch sie ganz fest. Und dass überhaupt die Freimaurerei „die lebenspraktische Umsetzung unserer ethischen Verantwortung als Menschen in der Welt ist“.

Die Männer haben es offenbar besser

Das sehen übrigens auch die Männer so. „Wir sind das älteste Netzwerk der Menschheitsgeschichte“, bekräftigt der Heidelberger Werner H. Heussinger, genannt Landesgroßredner der Großen Landesloge der Freimaurer von Deutschland. Nicht einmal die Coronajahre hätten den Männerbund mit seinen gut 15 000 Mitgliedern schmälern können. „Viele sagen sich: Ich hab’s satt, ständig vor dem Internet zu sitzen. Ich möchte mich selber kennenlernen.“

Das mit dem Zuwachs ist bei den Frauenlogen aber doch anders. In Reutlingen gab es einmal 33 Mitglieder, jetzt sind es noch 13. Ein eigenes Logenhaus können sie sich von ihren Mitgliedsbeiträgen schon lange nicht mehr leisten. Bundesweit sind in 34 Logen rund 660 Frauen organisiert. „Die Frage ist für mich: Wie geht es weiter?“, sagt Helga Widmann.

Arbeitsnomaden gibt es auch heute wieder

Ihr Ansatz ist, ruhig ein paar Rituale beizubehalten, weil sie das Zusammenhörigkeitsgefühl stärken könnten, beispielsweise die unterschiedlichen Schürzen, die Lehrling, Gesellin und Meisterin kennzeichnen, auch an der Symbolik etwa des Zirkels als Symbol von Schaffenskraft und Ausgeglichenheit in der Welt festzuhalten. Mit alten und neuen interessierten Mitstreiterinnen möchte sie aber in etwas Neues aufbrechen, innerhalb von Logenhäusern, in den Nebenzimmern von Wirtshäusern, egal – oder gerne vom eigenen Sofa aus in Videokonferenzen. Arbeitsnomaden gibt es nämlich auch heute wieder in wachsender Zahl, nur dass ihre Werkzeuge nicht mehr Winkelmaß, Lot und Kelle sind, sondern Computer. Von überall aus lasse sich doch über die Bewältigung des Pflegenotstands debattieren, über die Frage, was Ethik noch bedeutet, über Chancen und Gefahren der künstlichen Intelligenz oder die Gleichstellung von Frau und Mann.

Und am Ende, fordert Widmann, aus den Debatten ein Papier machen, ein Konzept, und es an Bundestagsabgeordnete reichen, Verbandschefs, an relevante gesellschaftliche Entscheidungsträger. „Freimaurerei ist per se politisch“, sagt die Initiatorin.

Ein Leben für den Konsum ist ihr fremd

Aber wenn sich die große Idee der Freimaurerinnen doch allmählich in den Strudeln der Moderne auflöst? Helga Widmann glaubt, dass das Grundbedürfnis der Menschen nach einer sinnvollen Existenz verschüttet oder überlagert werden kann, aber nie verschwindet. „Ich könnte mich ja auch auf die Aida setzen.“ Über eine Reling aufs Meer gucken, am Buffet schlemmen, danach die nächste Lustfahrt buchen. Die rastlose Pensionärin lächelt ein wenig spöttisch. Ihre Augen sagen: nie im Leben.