Stuttgart hat einen neuen OB: Fritz Kuhn hat bei seiner Amtseinführung für versöhnliche Worte gefunden – außer für die Bahn.

Stuttgart - Es ist ein Dezembertag 1985, als ein schlichtes Paar weißer Turnschuhe in Deutschland berühmt wird. Im Wiesbadener Landtag steht der neue hessische Umweltminister, ein schlanker Mann in schlichtem Sakko und knittriger Hose. Als er den Amtseid leistet, nimmt Joschka Fischer mit seinen Turnschuhen diesem politischen Schwur demonstrativ jenen feierlichen Ernst, der ihn sonst auszeichnet. Diese Botschaft vermittelt sich augenblicklich. Wenige Jahre zuvor hatte die bürgerliche Konkurrenz die Grünen-Abgeordneten als Turnschuhfraktion verspottet.

 

Fast drei Jahrzehnte später warten 600 geladene Gäste im großen Sitzungssaal des Stuttgarter Rathauses auf den neuen Oberbürgermeister. Turnschuhe sind nicht zu erwarten. Politische Sieger und Besiegte treffen sich, der Stadtdekan plaudert mit dem Ordnungsbürgermeister, der ehemalige Stuttgarter OB-Kandidat Boris Palmer grüßt seine einstige Konkurrentin Ute Kumpf. Neben ihr sitzt der Stuttgarter CDU-Parteichef Stefan Kaufmann. Das muss für ihn derzeit angenehmer sein als die Gesellschaft mancher Parteifreunde.

Küsschen links, Küsschen rechts, die Stimmung ist heiter wie beim Neujahrsempfang – anfangs noch sehr trocken, ohne Sekt. Ein Redezettel verschwindet im Sakko des Grünen-Fraktionsvorsitzenden Peter Pätzold, der mit dem CDU-Fraktionschef Alexander Kotz spricht. Schwarz und Grün, das sind die beiden Blöcke, die auf absehbare Zeit die Richtung im Stuttgarter Rathaus bestimmen werden. Die Reihen füllen sich, sind bald übervoll, die politische Krönung des Fritz Kuhn beginnt mit Verspätung. Vor dem Rathaus wird das erste Protestbanner des Widerstands entrollt. Man verspricht, weiter zu demonstrieren.

Ein schwarz-grünes Porsche-Modellauto für Kuhn

Dann, 16.38 Uhr, erst ein zaghafter, dann ein zunehmender Beifall. Von Blitzlichtern empfangen betreten Kuhn und Kretschmann das Rathaus. Es ist der Beginn der k. u. k. Zeit in Baden Württemberg – Kaiser Kretschmann, König Kuhn, Herrschaftsdauer offen. Der neue Stuttgarter Oberbürgermeister, man muss sich erst daran gewöhnen, sitzt zwischen Kretschmann und seiner Frau Waltraud Ulshöfer, die ein knallrotes Kleid trägt. Die beiden Söhne Leon und Mario sind auch gekommen. Fritz Kuhn streicht sich die grauen Haare über der Stirn glatt, er blickt sich um. Er trägt dunklen Anzug, gestreifte Krawatte, schwarze Lederschuhe.

Es folgen die Reden. In der des Ministerpräsidenten taucht die Wendung „mein lieber Fritz“ oft auf. Der CDU-Fraktionschef Alexander Kotz schenkt Kuhn ein schwarz-grünes Porsche-Modellauto und bittet ihn, das Auto in Stuttgart nicht zu vergessen. Der SÖS-Stadtrat Hannes Rockenbauch empfiehlt Visionen. Der FDP-Fraktionschef Bernd Klingler erinnert Kuhn daran, dass Grün aus den Farben Gelb und Blau gemischt werde – immerhin.

Dann ist es so weit. Fritz Kuhn schwört, der Stadt zu dienen. Die Grünen-Fraktionsvorsitzende Silvia Fischer hängt ihrem Parteifreund die Amtskette des OB um den Hals. Wie auf Kommando stürzen sich die Fotografen auf Kuhn, der den Ansturm mit Handbewegungen abweist. So nicht, signalisiert seine Geste. Er dirigiert den Pulk zur Seite: Wenn er nicht will, will er nicht. Das wissen viele seiner Weggefährten. In diesem Moment schwillt von draußen dumpfer Lärm an, und von der 155. Montagsdemonstration schickt man dem neuen OB eine unmissverständliche Botschaft ins Rathaus: „Oben bleiben!“

Die Stimmung im Saal: überwiegend freundlich

Kuhn lächelt verschmitzt, als er die Kette umgehängt bekommt. Seine Rede hält er weitgehend frei, sie wird eine Umarmung aller Fraktionen: Er pendelt von der Bekämpfung des Feinstaubs zum Ausbau der Kitas. Er verspricht, dass er ein Oberbürgermeister für die Stuttgarter Wirtschaft sein werde, schon aus Überzeugung, weil er den Mut von Unternehmern schätze. Natürlich fehlt nicht der Hinweis auf die nachhaltige Mobilität, aber: „Für oder gegen das Auto – das ist für mich eine Debatte von gestern.“

Die Stimmung im Saal: überwiegend freundlich. Doch vom Marktplatz dröhnt das Trillerpfeifenkonzert der Tiefbahnhofgegner, nun wagt sich Kuhn an das schwierigste Thema. Die Art und Weise, wie die Bahn zu lange über die Kostenexplosion bei Stuttgart 21 geschwiegen habe, könne er nicht hinnehmen. Die Bahn könne so mit der Bevölkerung und dem Gemeinderat nicht länger umgehen. Es ist einer jener Momente, in denen der Beifall für Kuhn am lautesten ist. In der ersten Reihe applaudiert Amtsvorgänger Wolfgang Schuster.

Nach der Rede stehen die Gratulanten bei Kuhn Schlange. In viele nette Worte mischen sich große Erwartungen. Außerhalb des Saals ist das Büfett längst eröffnet. Es gibt Bioprodukte.