Begriffe wie Hochkonjunktur und Vollbeschäftigung waren hierzulande jahrzehntelang Fremdwörter. Das hat sich geändert.

Stuttgart - Manche jüngeren Ökonomen lernen ihre Zunft gerade von einer neuen Seite kennen, denn es ist lange her, dass in Deutschland Begriffe wie Vollbeschäftigung und Hochkonjunktur gebräuchlich waren. Marcus Schenck, stellvertretender Vorstandschef der Deutschen Bank, hat in dieser Woche beim Neujahrsempfang seines Kreditinstituts in Stuttgart ganz nüchtern von „der besten wirtschaftlichen Grundstimmung seit 30 Jahren“ gesprochen. In der üblicherweise unaufgeregten „Neuen Zürcher Zeitung“ hieß es kürzlich sogar auf der Titelseite: „Deutschland droht eine Überhitzung“.

 

Zuvor hatte der Sachverständigenrat, die sogenannten Fünf Weisen, die Diskussion über den Boom angestoßen. Die meisten Wirtschaftswissenschaftler sind sich aber darüber einig, dass von einer konjunkturellen Überhitzung keine Rede sein kann. „Die Entwicklung ist sehr gut“, so zum Beispiel Gustav Horn, Wissenschaftlicher Direktor des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der Hans-Böckler-Stiftung, „aber es zeichnet sich nicht ab, dass die Konjunktur jetzt an Kapazitätsgrenzen stoßen würde.“

Warum nicht griechische Baufirmen?

Das gilt aus Horns Sicht auch für den Bau. Ende vorigen Jahres hatte eine Studie für das Institut für Bau-, Stadt- und Raumforschung mit dieser Aussage aufhorchen lassen: „Die Kapazitäten des Baugewerbes sind gemessen an der Auslastung von Maschinen und Geräten derzeit fast vollständig ausgeschöpft.“ Das alarmiert den IMK-Direktor aber nicht: „Wir sind eingebunden in die Weltwirtschaft. Und wenn es irgendwo wirklich klemmt, dann spricht doch nichts dagegen, Aufträge an ausländische Baufirmen zu erteilen“, sagt er: „Warum sollen nicht griechische Baufirmen, die gewiss freie Kapazitäten haben, in Deutschland Häuser bauen?“

So deuten gegenwärtig viele Faktoren auf eine wahrscheinlich anhaltende Hochkonjunktur hin, aber nichts unmittelbar auf eine Überhitzung. Andernfalls müsste die sogenannte Lohn-Preis-Spirale nach diesem Schema in Gang gekommen sein: Sind die Kapazitäten ausgelastet und lassen sich zum Beispiel wegen Arbeitskräftemangels nicht erweitern, dann kann trotz steigender Nachfrage nichts zusätzlich produziert werden. Die höhere Nachfrage führt aber zu steigenden Preisen. Das berücksichtigen die Gewerkschaften in ihren Lohnforderungen; die Folge sind höhere Tarifabschlüsse und steigende Kosten für die Unternehmen – was in der nächsten Runde die Preise und dann wieder die Löhne weiter steigen lässt.

15,0 Prozent Lohnplus – in einem Jahr

In den 1960er und 1970er Jahren war dieses Phänomen in Deutschland häufig anzutreffen. So brummte zum Beispiel im Jahr 1970 die Wirtschaft mit einer Wachstumsrate von 5,0 Prozent, und der Arbeitsmarkt war praktisch leer gefegt (Arbeitslosenquote: 0,7 Prozent); die Preise stiegen um 3,6 Prozent, die Bruttoentgelte (nominal) sogar um 15,0 Prozent. Und wie sieht es gegenwärtig aus? „Trotz zunehmender Anspannungen am Arbeitsmarkt blieb ein außergewöhnlicher Lohn- und Preisanstieg, den man in einer Phase der Hochkonjunktur erwarten würde, bislang aus“, stellt zum Beispiel das Ifo-Institut fest.

Die Unternehmen investieren kräftig in zusätzliche Kapazitäten

Dass ein Fachkräftemangel die Entwicklung hemmt, beklagen aber die Arbeitgeber seit Langem. So schreibt das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft: „Ein Drittel der deutschen Unternehmen ist derzeit überausgelastet. Vor allem fehlende Fachkräfte erklären hoch ausgelastete Kapazitäten und die dadurch gebremste Konjunkturdynamik.“

Wer schlecht zahlt, hat Probleme bei der Fachkräftesuche

Der Umfang der geleisteten Arbeit deutet freilich nicht auf einen Engpass hin. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit hat ausgerechnet, dass die Menschen 2017 sogar etwas weniger gearbeitet haben als im Jahr zuvor. Noch finden die Betriebe Personal; die Beschäftigung steigt, die Arbeitslosigkeit sinkt – zuletzt auf den tiefsten Stand seit 25 Jahren.

Einen flächendeckenden Fachkräftemangel kann das IAB nicht erkennen, aber die Arbeitsmarktexperten schreiben auch, dass sich in den vergangenen Jahren die Probleme bei der Suche gerade bei kleineren Unternehmen oder im ländlichen Raum vergrößert hätten. Und: „Betriebe berichten häufig da über Engpässe, wo die Löhne vergleichsweise niedrig sind.“

Die Effektivverdienste nehmen jetzt kräftig zu

Das passt zu Horns These, dass ein Mangel zu steigenden Preisen führen müsste. „Wir müssten also in bestimmten Bereichen sehr starke Lohnsteigerungen feststellen können“, sagt der Ökonom. „Das ist aber nicht der Fall. Wir haben zwar kräftigere Lohnsteigerungen als noch vor zehn Jahren, aber es ist nicht so, dass sich die Unternehmen im Wettbewerb um Fachkräfte gegenseitig überbieten würden.“

Geht es nach dem Ifo-Institut, dann wird sich die Tendenz bald ändern: „Die Effektivverdienste pro Arbeitnehmer werden 2018 voraussichtlich beschleunigt um 3,4 Prozent und um 3,5 Prozent im Jahr 2019 expandieren“, steht in der jüngsten Ifo-Konjunkturanalyse. Im abgelaufenen Jahr sind die Bruttolöhne und -gehälter pro Arbeitnehmer um 2,7 Prozent gestiegen und haben dazu geführt, dass der Konsum mit einem Anteil von zwei Dritteln die treibende Kraft beim Wachstum war. Nach der Ifo-Prognose könnte dieser Trend anhalten.

Rätseln über den Preisanstieg

Im vorigen Jahr sind die Preise aber erstmals wieder nennenswert gestiegen. Ob das nur an höheren Öl- und Spritrechnungen liegt oder ob auch die Kernrate (Preisanstieg ohne Energiekosten) Inflationstendenzen zeigt, ist umstritten. „Ein deutliches Anziehen der Kernrate zeichnet sich derzeit nicht ab“, behauptet das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Das Ifo-Institut ist nicht ganz so gelassen: „Die Kern-Inflationsrate hat sich von 1,1 Prozent im Frühsommer 2016 fast kontinuierlich auf 1,7 Prozent im dritten Quartal 2017 erhöht.“ Der weitere Aufbau der Beschäftigung wird sich auf jeden Fall verlangsamen, so dass der Schub für weiter steigende Konsumausgaben nach Ansicht des DIW nachlassen wird. Das spricht ebenso gegen eine Überhitzung der Konjunktur wie die kräftig steigenden Investitionen der Unternehmen, die die Produktionsmöglichkeiten erweitern. Das IMK erwartet eine Zunahme um sieben Prozent.