Hansi Müller zählte zur deutschen Elf, die 1980 Europameister wurde. Für den Ex-Nationalspieler ist die deutsche Elf der Topfavorit auf den EM-Titel. „Aber auch als Weltmeister muss sich das Team von der ersten Spielminute an alles neu erarbeiten“, schreibt der frühere VfB-Profi in seiner EM-Kolumne.

Stuttgart - Ich war diese Woche kurz in Evian und habe mir das EM-Quartier unserer Mannschaft angeschaut. Und ich war beeindruckt. Alles top. Der Deutsche Fußball-Bund hat wie immer für alles gesorgt. Man darf das auf keinen Fall unterschätzen. Die Spieler leben vier Wochen lang auf engstem Raum zusammen, ihr Gemütszustand pendelt zwischen höchster Anspannung und Ungeduld vor dem Spiel und dem tiefen Bedürfnis nach Ruhe und Regeneration nach einer Partie. Sie sollen sich als Team fühlen, aber sie müssen sich auch aus dem Weg gehen können. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen: Kein Gift wirkt verheerender als das eines Lagerkollers. Plötzlich wächst die Unzufriedenheit, es bilden sich kleine Gruppen, die den Teamgeist empfindlich stören. Das alles hemmt die Leistung.

 

Kluge Zusammensetzung

Aber Joachim Löw und Oliver Bierhoff widmen genau diesem Aspekt sehr viel Aufmerksamkeit. Er war einer der Bausteine, die den WM-Titel ermöglicht haben. Ein anderer war die kluge Zusammensetzung des Kaders, denn bei jedem großen Turnier gibt es spezielle Erfordernisse durch den jeweiligen Gegner, Formschwankungen einzelner Spieler, Verletzungen oder Sperren. Der Bundestrainer muss auf alles eine Antwort haben. In Brasilien hat es wunderbar funktioniert, warum sollte es nicht auch in Frankreich klappen? Ich denke, die deutsche Elf muss niemanden fürchten, wenn sie von der ersten Spielminute an agiert, als sei das komplette System auf Null gestellt. Alles beginnt von vorn, nichts ist selbstverständlich, jeden Spielzug, jeden Pass, jeden Torschuss muss sich jeder Spieler neu erarbeiten. Das ist eine Frage der Einstellung. Die Spieler müssen brennen. Für den Weltmeistertitel kann sich schon morgen Abend gegen die Ukraine keiner mehr etwas kaufen.

Natürlich ist es jammerschade, dass sich Antonio Rüdiger noch so schwer verletzt hat. Jérôme Boateng ist zwar ein überragender Innenverteidiger, aber nach seiner langen Verletzungspause fehlt ihm vielleicht noch ein bisschen der Spielrhythmus. Auch Mats Hummels kämpfte in den vergangenen Tagen noch mit leichten Blessuren. Und der nachnominierte Jonathan Tah ist zwar ein super Talent, international fehlt ihm aber die Erfahrung. Die Außenverteidiger Jonas Hector und Benedikt Höwedes besitzen zwar Klasse, ob das reicht, wenn die Elf in den K.o.-Spielen richtig unter Druck kommen sollte, ist aber nicht so sicher. Sollte es eine Problemzone im Spiel unserer Mannschaft geben, dann am ehesten in der Abwehr. In Mittelfeld und Angriff sind wird mit absoluten Weltklasse-Spielern besetzt, wobei ich mich vor allem über Mario Gomez freue. Ich ziehe den Hut davor, wie er sich Stück für Stück zurück ins Team gekämpft hat – trotz aller Rückschläge.

Frankreich profitiert vom Heimvorteil

Für mich ist die deutsche Elf der Top-Favorit auf den Titel. Frankreich profitiert vom Heimvorteil, Spanien will die Scharte der WM 2014 auswetzen. Und nicht ohne Grund, holen sich die Club-Mannschaften von der iberischen Halbinsel regelmäßig die Europa-Cup-Trophäen. Mit Italien muss man zwar immer rechnen, aber die Squadra Azzura ist zuletzt nicht sehr überzeugend aufgetreten. Belgien könnte zum Überraschungsteam werden.

So oder so: Die EMwird hochklassigen Fußball bieten, da bin ich mir sicher. Mit großen Siegen und herben Enttäuschungen. Auf dem Weg zum Titel braucht es wie immer auch ein wenig Glück. Das wünsche ich Joachim Löw und seiner Elf von Herzen. Wie gesagt: alles auf Null. Und auf ins nächste Abenteuer!

So tippen Stuttgarter Promis die Fußball-EM.