Im Marmarameer hat wieder die Erde gebebt. Istanbul sitzt auf einem geologischen Pulverfass. Jederzeit kann es in der Region um die türkische Millionen-Metropole zu einem schweren Erdbeben  kommen. Mit katastrophalen Folgen - wie neue Analysen zeigen.

Wochenend-Magazin: Markus Brauer (mb)

Ein Erdbeben der Stärke 5,1 im Marmarameer ist am Montag (4. Dezember) bis in die Millionenmetropole Istanbul zu spüren gewesen. Das Zentrum des Bebens lag nach Angaben der türkischen Katastrophenschutzbehörde in der Gemlik-Bucht im Marmarameer, die etwa 60 Kilometer südlich von Istanbul in der Nähe der Stadt Bursa liegt. Die Erschütterungen waren auf beiden Seiten des  Bosporus zu spüren, über Verletzte oder größere Schäden wurde zunächst aber nichts bekannt.

 

Istanbul liegt am Nordufer des Marmarameers in der Nähe der Nordanatolischen Verwerfung, die zu den aktivsten Erdbebenzonen der Erde gehört. 1999 waren bei einem Erdbeben der Stärke 7,6 am östlichen Stadtrand von Istanbul mehr 17 000 Menschen ums Leben gekommen. Seitdem hat sich die Einwohlzahl Istanbuls fast verdoppelt - auf 16 Millionen Menschen.

Im Februar waren bei zwei schweren Erdbeben mehr als 50.000 Menschen im Südosten der Türkei und in Syrien ums Leben gekommen, in mehreren Städten und Dörfern wurden zehntausende Gebäude zerstört oder beschädigt.

25 Mega-Citys in Risikogebieten

Diese schweren Beben zeigen einmal mehr, wie verwundbar selbst hoch industrialisierte Staaten sind. Mega-Metropolen wie Istanbul, Tokio, Los Angeles oder Mexiko-Stadt liegen in extrem gefährdeten Erdbebengebieten. Jederzeit kann über sie eine seismische Katastrophe hereinbrechen.

Nach Angaben des United States Geological Survey (USGS) und des GeoForschungsZentrums (GFZ) in Potsdam gibt es weltweit täglich rund 270 Beben mit einer Magnitude von mehr als 3,1. Im Schnitt kommt es zehnmal pro Jahr zu Beben der Stärke 7+.

Die Menschen blenden die Gefahren vielfach aus und beruhigen sich damit, dass schon nichts passieren wird. Ein lebensgefährlicher Irrtum. Nach UN-Angaben gibt es mittlerweile 25 Mega-Citys in Risikogebieten. Ungeachtet der Gefahren aus dem Untergrund, wachsen Metropolregionen mit zehn Millionen Einwohnern und mehr in einem Tempo, wie sonst keine anderen Städte auf der Erde.

Wir zeigen Ihnen, wo sich die gefährlichsten Erdbeben-Regionen der Welt befinden:

Warum ist Istanbul ein Erdbeben-Hotspot?

Die Region um die türkische Metropole Istanbul ist geologisch einer der gefährlichsten Orte auf diesem Planeten. Die 16 Millionen Einwohner sitzen buchstäblich auf einem seismischen Pulverfass. Der Grund: Direkt südlich liegt die Nordanatolische Verwerfung. An dieser aktiven Plattengrenze verschieben sich die anatolische und eurasische Erdplatte gegeneinander. Wenn sich die Platten ineinander verhaken, entlädt sich die aufgebaute Spannung in Erdbeben.

Das Zentrum der Verwerfung liegt südlich von Istanbul im östlichen Marmarameer – ein 150 Kilometer langer Abschnitt der Marmara-Hauptverwerfung. Zuletzt war er am 22. Mai 1766 gebrochen. Das Beben mit einer Magnitude von 7,1 Stärke forderte damals mehr als 4000 Todesopfer.

Blick auf die berühmte Hagia Sophia. Foto: Imago/Westend61
Wenn die Nordanatolische Verwerfung brechen sollte, könnte dies ein Beben bis zu einer Stärke von 7,4 direkt bei Istanbul . . .. Foto: Imago/A. Tamboly
. . . oder ein Beben an der Ganos-Verwerfung westlich des Marmarameeres mit noch höheren Magnitude zur Folge haben. Foto: Imago/Wirestock

Wann könnte die Erde bei Istanbul beben?

Geologen sind sich einig. Das nächste schwere Beben in Istanbul ist längst überfällig. Aktuelle seismische Analysen bestätigen, dass die Plattengrenze südlich von Istanbul blockiert ist. Dort sind die anatolische und eurasische Erdplatte komplett ineinander verhakt. Kommt es dort zum Bruch der Verwerfung kommt – nur das Wann, nicht das Ob ist noch offen –, wäre ein Beben von einer Stärke bis 7,4 auf der Richterskala sehr wahrscheinlich.

Wie blockiert die Verwerfung unter dem Marmarameer ist, haben Wissenschaftler vom Deutschen GeoForschungsZentrums Potsdam anhand neuer seismologischer Daten aus den letzten 15 Jahren analysiert. Ihre Ergebnisse haben sie in dem Fachmagazin „Geophysical Research Letters“ („Variation of Fault Creep Along the Overdue Istanbul-Marmara Seismic Gap in NW Türkiye“) veröffentlicht.

Seismische Situation an der Marmara-Verwerfung: Blaue Abschnitte markieren kriechende Bereiche der Plattengrenze, orangefarbene sind Übergangsbereiche, rote sind blockierte Bereiche. Foto: Becker/Bonhoff//GFZ
Verwerfungsaktivität der Nordanatolischen Verwerfung. Foto: Becker/Bonhoff/GFZ

Warum sind die Erdplatten blockiert?

Mithilfe des computergestützten „Template Matching“ – einer speziellen Technik in der digitalen Bildverarbeitung zum Auffinden kleiner Teile eines Bildes – konnte das Team um den Geologen Dirk Becker belegen, dass sich die Platten im Westteil des Marmarameeres nur noch „ kriechend aneinander vorbeibewegen“. Südlich von Istanbul allerdings ist selbst diese kriechende Bewegung der Verwerfung komplett blockiert.

„Der Kriechanteil verringert sich ostwärts systematisch“, erklärt Becker. „Dort sind die Abschnitte der Marmara-Verwerfung („Main Marmara Fault“/MMF) )dann vollständig verhakt.“ Ebenfalls blockiert sei ein Stück der Ganos-Verwerfung, einem Abschnitt der Plattengrenze, der jenseits der Marmarameeres im Westen liegt.

Ist ein sehr starkes Beben wahrscheinlich?

Wenn die Nordanatolische Verwerfung brechen sollte, könnte dies ein Beben bis zu einer Stärke von 7,4 direkt bei Istanbul oder ein Beben an der Ganos-Verwerfung westlich des Marmarameeres mit noch höheren Magnitude zur Folge haben.

„Die Studie liefert ein differenziertes Bild der Dynamik der Plattenbewegung an einer kritisch gespannten Verwerfung in unmittelbarer Nähe zu einer Megacity“, erläutert GFZ-Mitautor Marco Bohnhoff. „Der systematische Übergang zwischen verhakten und kriechenden Segmenten ist in dieser Form weltweit einmalig.“

Es scheint also nur noch eine Frage der Zeit zu sein, so Bonhoff weiter, bis sich die geologische Spannung an der Marmara-Verwerfung entlädt.

Info: Messung von Erdbeben

Messung
Bei der Messung von Erdbeben wird die Stärke der Bodenbewegung angegeben (Magnitude). Weltweit treten jährlich etwa 50 000 Beben der Stärke 3 bis 4 auf. Etwa 800 haben die Stärken 5 oder 6. Ein Großbeben hat den Wert 8.

Stärken
Das heftigste bisher auf der Erde gemessene Beben hatte eine Magnitude von 9,5 und ereignete sich 1960 in Chile. Erdbeben können je nach Dauer, Bodenbeschaffenheit und Bauweise in der Region unterschiedliche Auswirkungen haben.

Magnitude
Meist gilt: • Stärke 1-2: nur durch Instrumente nachzuweisen • Stärke 3: nur in der Nähe des Epizentrums zu spüren • Stärke 4-5: 30 Kilometer um das Zentrum spürbar, leichte Schäden • Stärke 6: mäßiges Beben, Tote und schwere Schäden in dicht besiedelten Regionen • Stärke 7: starkes Beben, oft katastrophale Folgen und Todesopfer • Stärke 8: Großbeben mit vielen Opfern und schweren Verwüstungen

Richterskala
Früher wurde die Erdbebenstärke einheitlich nach der Richterskala bestimmt. Der amerikanische Geophysiker Charles Francis Richter hatte die Skala 1935 speziell für Kalifornien ausgearbeitet. Heute wird sie nur noch eingeschränkt eingesetzt, auch weil das Verfahren nur bei Erschütterungen in der Nähe der Messstationen zuverlässige Werte liefert (Lokalmagnitude).

Mess-Skalen
Mittlerweile werden mehrere Skalen parallel verwendet. Derzeit gilt die sogenannte Momentmagnitude als bestes physikalisches Maß für die Stärke eines Bebens. Sie bestimmt das gesamte Spektrum der seismischen Wellen bei Erdstößen. Die meisten Skalen ergeben zumindest bei schwächeren Beben ähnliche Werte wie die Richterskala, erlauben aber eine genauere Differenzierung bei schweren Beben.