Im Strohgäu haben seit Jahren Ditzingen und Korntal-Münchingen den Titel Fairtrade-Town. Nun zieht Gerlingen nach. Was bringt das den Städten und Bürgern?

Es waren im Jahr 2020 die Grünen, die forderten, Gerlingen möge die Auszeichnung als Fairtrade-Town anzustreben. Im Interview spricht die Leiterin der Kampagne bei Fairtrade, Lisa Herrmann, darüber, welchen Stellenwert der Titel hat und inwiefern die Bevölkerung davon profitiert.

 

Frau Herrmann, was bedeutet die Auszeichnung für Gerlingen?

Städte und Gemeinden spielen eine entscheidende Rolle bei der Umsetzung nachhaltiger Entwicklungsstrategien. Fairer Handel, bewusster Konsum und gerechte Handelsstrukturen sind wichtige Themen in der Gesellschaft. Eine Stadt, die sich damit beschäftigt, übernimmt soziale Verantwortung und positioniert sich als innovative und weltoffene Kommune bei Bürgerinnen und Bürgern sowie Besucherinnen und Besuchern. Nicht vergessen sollte man, dass die Veränderungen, die durch eine Auszeichnung herbeigeführt werden, große Auswirkungen auf die Produzentinnen und Produzenten im globalen Süden haben.

Ist die Arbeit für die Stadt nun beendet – oder fängt sie jetzt erst an?

Die Auszeichnung kann nur ein Anstoß sein, durch den Prozesse in Gang gesetzt werden, die zu weiteren Veränderungen führen: Kommunen stellen beispielsweise ihre Produktbeschaffung auf nachhaltig um, die lokale Politik übernimmt Verantwortung für die globale Wirtschaft, Schulen schärfen ihr Profil und wechseln zu einem Caterer, der faire Produkte anbietet, Universitäten organisieren Aktionen auf dem Campus und regen den wissenschaftlichen Diskurs zum fairen Handel an.

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Was haben die Gerlingerinnen und Gerlinger vom Titel ihrer Heimatstadt?

Ganz praktisch gibt es natürlich erst einmal mehr faire Produkte in Geschäften und in Cafés. Darüber hinaus sind die Bürgerinnen und Bürger von Fairtrade-Towns dazu eingeladen, sich an der Umsetzung von Nachhaltigkeitszielen aktiv zu beteiligen. Ein offener Diskurs zu der Thematik, der von der ganzen Stadt getragen wird, unterstützt diesen Prozess. Außerdem hält das Team der Kampagne Fairtrade-Towns Kontakt mit den lokalen Steuerungsgruppen und unterstützt die Engagierten bei der Umsetzung von Aktivitäten. Somit sind wir das ganze Jahr über mit den Kommunen im Austausch.

Was kann jeder Einzelne im Sinne des fairen Handels tun?

Die Zahl der Fairtrade-Towns zeigt vor allem das große Engagement der Gesellschaft für den fairen Handel. Trotzdem ist der Weg zur weltweiten Handelsgerechtigkeit noch weit. Alle können einen Beitrag leisten. Dazu zählt nicht nur fair einzukaufen, sondern auch sich darüber hinaus zu engagieren in der lokalen Gruppe und vor allem auch: mit Menschen darüber zu sprechen.

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Zurzeit werden unter anderem Lebensmittel immer teurer. Wie überzeugen Sie Kritiker, trotzdem für Fairtrade-Ware mehr Geld auszugeben, statt günstig(er) etwa im Discounter zu kaufen?

Faire Produkte gibt es in verschiedenen Qualitäts- und Preiskategorien. Fair heißt also nicht zwingend teuer, und teuer heißt nicht zwingend fair. Dennoch verstehen wir, dass es vielen Verbraucherinnen und Verbrauchern angesichts der aktuellen Situation schwerer fällt, ihr Geld für fair gehandelte oder biologisch angebaute Produkte auszugeben. Aber eigentlich sollte es im Interesse aller sein, Handelsketten langfristig und nachhaltig aufzubauen. Wir zahlen den Preis für unser Konsumverhalten so oder so, wenn vielleicht auch nicht an der Supermarktkasse. Wer in nachhaltige Produkte investiert, investiert auch in eine Zukunft, in der diese Produkte überhaupt noch erhältlich sind.

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In 26 Ländern sind schon mehr als 2200 Kommunen ausgezeichnet. Welchen Stellenwert hat der Titel da noch?

Die Auszeichnung bedeutet, dass fairer Handel in der Gesellschaft ankommt – und das ist wichtig. Denn jedes Produkt aus fairem Handel bedeutet für die Erzeugerinnen und Erzeuger höhere Absätze und trägt zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen bei. Das ist das Ziel von Fairtrade und der Fairtrade-Aktiven. Mit der Auszeichnung honorieren wir das Engagement der Kommunen, allerdings nicht als Distinktionsmoment, denn natürlich möchten wir, dass fairer Handel Normalität wird.

Wenn das Besondere Normalität wird, werden die Ansprüche an Kommunen dann in absehbarer Zeit höher?

Wir freuen uns über die rege Teilnahme der Städte. Die teilnehmenden Kommunen sind Vorreiter, aber die Mehrheit der Kommunen in Deutschland ist immer noch nicht ausgezeichnet. Fairer Handel sollte unseres Erachtens keine Besonderheit sein, sondern Normalität – das ist das Ziel. Leider haben wir dieses noch nicht erreicht, daher ist wichtig, dass sich immer mehr Kommunen anschließen. An unseren Ansprüchen ändert dies erst einmal nichts.

Damit möglichst viele mitmachen . . .

Wir planen keine Verschärfung, weil wir sehen, dass die Kommunen, die sich auf den Weg begeben und die Auszeichnung anstreben, auch danach nicht stehen bleiben, sondern ihr Engagement vertiefen. Es gibt zahlreiche Projekte, Veranstaltungen, manche beteiligen sich an Programmen zur Gestaltung von Nachhaltigkeitsstrategien, wie zum Beispiel die Stadt Erfurt, die Stadt Jena und Kommunen in Netzwerken wie Faire Metropole Ruhr oder Faire Metropolregion Nürnberg. Unsere Kampagne unterstützt die Kommunen individuell auf ihrem Weg.