Cigdem Akyol hat eine Biografie über den türkischen Staatspräsidenten Erdogan geschrieben, doch die Zuhörer eines Gesprächs mit ihr im Hospitalhof interessieren sich vor allem für ihr Leben in der Türkei und deren Weg nach unten – wie Akyol ihn interpretiert.

Stuttgart - Über den eigentlichen Anlass, ihre Erdogan-Biografie, wird an diesem Abend erstaunlich wenig gesprochen. Zu spannend ist das, was Autorin Cigdem Akyol über ihr Leben in Istanbul und die rasante gesellschaftliche und vor allem politische Entwicklung der Türkei zu berichten hat. Auf Einladung des Evangelischen Bildungszentrums Hospitalhof und des Katholischen Bildungswerks Stuttgart war die Journalistin am Dienstagabend zu einer Lesung in die Landeshauptstadt gekommen.

 

Ein Buch über den türkischen Staatspräsidenten zu schreiben, war überhaupt nicht ihre Absicht, als Akyol 2014 ihr Zuhause in Westfalen und ihre Festanstellung bei der TAZ hinter sich ließ, um im Heimatland ihrer 1973 nach Deutschland ausgewanderten Eltern als Korrespondentin zu arbeiten. Das „Kind des Ruhrpotts“ (Eigenbeschreibung) kannte die Türkei zuvor trotz einiger Besuche kaum, wie Akyol einräumt. Unvoreingenommen erlebte sie das Land am Bosporus anfangs als offen und mit einer „wachen Zivilgesellschaft“. Die journalistische Beschäftigung mit weichen Themen, beispielsweise männliche Bauchtänzer, wurde aber schon bald durch Krisenberichterstattung abgelöst. „Man kommt inzwischen kaum noch hinterher“, erzählt die 37-Jährige und spricht von einer Spirale, die Staat und Gesellschaft kontinuierlich nach unten führte. Die Türkei, so Akyol, sei heute „ein ganz anderes Land als vor zweieinhalb Jahren“.

Mehrfache Interviewanfragen blieben unbeantwortet

Der Hauptgrund für die Entwicklung zur „defekten Demokratie“ ist schnell personifiziert. Recep Tayyip Erdogan, einst Hoffnungsträger auch des Westens, hat sich immer mehr zum Alleinherrscher entwickelt, der für seine uneingeschränkte Macht alles zu opfern bereit scheint. Der „pure journalistische Instinkt“, sagt Akyol, habe sie dazu getrieben, über Erdogan eine Biografie zu schreiben. Mehrfache Interviewanfragen blieben vom türkischen Präsidialamt unbeantwortet. „Ich habe nichts anderes erwartet“, sagt die Journalistin, ließ sich aber nicht mehr von ihrem Vorhaben abbringen und legte im Frühjahr 2016 die erste deutschsprachige Erdogan-Biografie in Buchform vor.

Vom Militärputsch am 15. Juli erfuhr Cigdem Akyol in ihrer Istanbuler Wohnung durch einen nächtlichen Anruf von ihrer Mutter, die in Herne durch Fernsehbilder aufgeschreckt wurde und um das Wohlbefinden der Tochter besorgt war. Seitdem ist das Leben für viele in der Türkei noch beschwerlicher geworden. Vor Erdogans Säuberungsaktionen muss sich jeder kritische Geist fürchten. „Warum bist Du noch nicht im Knast?“, fragt Moderatorin Christine Keck. Die Redakteurin der Stuttgarter Zeitung/Stuttgarter Nachrichten kennt die Autorin, seit sich ihre Wege bei einer Arbeitsreise durch Nigeria gekreuzt haben. „Glück und ein deutscher Pass“, benennt Akyol zwei wesentliche Faktoren, die sie vor einem Zugriff der Sicherheitskräfte bislang bewahrt haben. Viele westliche Korrespondenten sind inzwischen gegangen, sie aber ist geblieben und will nicht jammern. Akyol: „Den türkischen Kollegen geht es noch viel schlechter. Die müssen wirklich um ihr Leben fürchten.“

Wer hinter dem Putsch steckt, ob es eine sogar von Erdogan selbst gesteuerte Aktion war oder ob der in den USA lebende Prediger Gülen dahintersteckt, lässt sich für die Journalistin noch nicht beantworten. Zu diesem Thema und den politischen Ambitionen Erdogans richten sich die meisten Fragen des thematisch gut informierten Publikums in der abschließenden Diskussionsrunde. Viel Optimismus kann Cigdem Akyol nicht verbreiten. „Ich glaube nicht, dass ich es noch erlebe, dass die Türkei in die EU eintreten wird.“