In Serbiens Hauptstadt Belgrad breiten sich Graffiti-Nachrufe für aus dem Leben gerissene Jugendliche aus. In der Frühzeit dieser Form von Straßenkunst kamen noch Milizen aus dem Bürgerkrieg als Graffiti auf die Wände.

Korrespondenten: Thomas Roser (tro)

Sein Leben war so kurz wie sein Polizeidossier lang. Ob Raub, Autodiebstahl oder schwere Körperverletzung: 16-mal wurde Marko „Taki“ Filipovic angezeigt, 50-mal bei der Polizei vorgeführt und drei Mal verurteilt. In seinem „Revier“ im Belgrader Stadtteil Dorcol wurde der 29-Jährige am 24. Oktober 2007 aus dem Leben gerissen: Bei der Explosion einer Autobombe verstarb der Gangster am Steuer seines Fahrzeugs.

 

Doch niemals geht auch ein schwerer Junge so ganz: Eine merkwürdige Gedenkstätte erinnert in Serbiens Hauptstadt an das ermordete Mitglied des berüchtigten „Dorcol-Clans“. Freundlich lächelt das überlebensgroße Antlitz von „Taki“ in schwarz-weißen Tönen von einem Foto auf einer Mauer an der UIica Gundulicev Venac. „Geliebt von wenigen, gehasst von vielen, respektiert von allen“, sollen Sätze in englischer Sprache an den verblichenen Justizklienten erinnern.

Sie nennen es „Fassaden für den Bruder“

Mit den großflächigen Gesichtern verstorbener Halbwelt-Helden, Hooligan-Anführer oder ganz normaler Jugendlicher werden die Bewohner der Hauptstadt seit der Jahrtausendwende immer häufiger konfrontiert. Als „Fassaden für den Bruder“ bezeichnet die Wochenzeitschrift „Nin“ die sich vor allem in den Vorstädten allmählich ausbreitende Verstorbenengalerie. Noch vor drei Jahren seien nur ein bis zwei Graffiti-Künstler auf die Mauernachrufe spezialisiert gewesen, mittlerweile habe sich ihre Zahl wegen der steigenden Nachfrage auf über ein halbes Dutzend vermehrt.

Als relativ neues Phänomen, das noch nicht erforscht sei, bezeichnet der Belgrader Anthropologe Ivan Colovac die Mauernachrufe. Die „Graffitiikonen“ knüpften einerseits an die Tradition politischer Graffiti und Propaganda in den neunziger Jahren an. Andererseits seien sie Ausdruck der „Popkultur“ und vermutlich auch auf die traditionelle „Ablebenskommunikation“ in der Region zurückzuführen: Nicht nur in Serbien, sondern auch im benachbarten Bulgarien sei es Brauch, Todesanzeigen mit dem Foto der Verstorbenen auf Haustüren und Straßenmasten zu kleben.

Milizen als Graffitimotiv

Den Anfang der Gangstergedenkwände machten in den neunziger Jahren die zweifelhaften Helden des Kriegsjahrzehnts. Am Vorortstadion des FC Obilic prangt noch immer die etwas verblasste Silhouette des einstigen Gönners des jugoslawischen Meisters von 1997, Zeljko „Arkan“ Raznatovic: Der Chef der berüchtigten Kriegsmiliz „Arkan Tiger“ starb vor 13 Jahren bei einem Mordanschlag vor dem Belgrader Intercontinental-Hotel im Kugelhagel.

Mittlerweile haben sich die Graffititechniken und Farben merklich verbessert. Meist werden die Auftragsgraffiti, deren Preis rund 300 Euro beträgt, von Freunden der Verblichenen gemeinsam bestellt und bezahlt. Vorab wird in die Regel die Zustimmung der Hauseigentümer eingeholt. Mittlerweile sind die Mauernachrufe keineswegs mehr nur „prominenten“ Straßenhelden der Belgrader Stadtviertel gewidmet.

Die feinsten Linien sind zwei Zentimeter breit

Ob Baneta, Nikola oder Suki: Ernst und unbekannt blicken jung aus dem Leben gerissene Jugendliche ihre einstigen Mitbürger an, die sie zu Lebzeiten in ihren Vierteln oft wohl kaum bemerkt haben. Die überlebensgroßen Formate sind nach Angaben der Schöpfer weniger durch das Streben der Auftraggeber nach Verherrlichung der Verstorbenen als durch die Eigenheiten des verwendeten Autolacks bedingt: Die feinste Linie, die sich mit Spraydosen ziehen lasse, sei eben eins bis zwei Zentimeter breit. Deshalb würden die Porträtdarstellungen insgesamt so riesig.

Auf die Todesursache wird auf den Nachrufgraffiti nur selten verwiesen. Ein Pistolenschuss, ein Schrei und fließendes Blut im Mondschein: der junge Mann auf dem verrosteten Tor in der Belgrader Graffitihochburg Lekino Brdo fiel offenbar einem Mord zum Opfer. Oft zieren die Porträts aber nur die Lebensdaten und der Vorname der Verstorbenen: Nur gelegentlich ist noch eine Zeile wie etwa „für ewiges Gedenken“ oder „für ewigen Ruhm“ beigefügt. Gewidmet sind die Graffitiikonen fast immer jungen Männern. Ob aus Respekt vor den Toten oder der Kunstfertigkeit ihrer Porträts: übermalt werden die Mauernachrufe fast nie.