Hingucker in Remseck Straßenbahn-Oldie steht für revolutionäre Ära

Fahrzeugschlosser Klaus Bassing kennt das in Remseck stehende Modell einer GT4 aus dem Effeff. Foto: Simon Granville

Vor dem Betriebshof in Remseck im Kreis Ludwigsburg ist eine Straßenbahn abgestellt, die aus einer ganz besonderen Modellreihe stammt – und sogar in der Region gebaut wurde. Eine kleine Zeitreise, die in den 1960er Jahren beginnt.

Der Rost frisst sich allmählich durch das Gehäuse, aus den Sitzen mit Stoffüberzug kriecht ein modriger Geruch. Die Tür zur Fahrerkabine blockiert beim Öffnen, springt erst nach einem beherzten Ziehen quietschend auf. Es ist allerdings kein Wunder, dass der Triebwagen vor dem Betriebshof der Stuttgarter Straßenbahnen (SSB) in Remseck-Aldingen nicht mehr gut in Schuss ist. Er hat schon mehr als 60 Jahre auf dem Buckel, ist jeden Tag 24 Stunden Wind und Wetter ausgesetzt – und längst außer Betrieb. Der ausgemusterte Oldtimer ist aber doch auch ein Blickfang, der speziell den Pendlern an der Haltestelle Hornbach ins Auge sticht, und zudem ein besonderes Exemplar. Vor allem, weil er für eine Ära des Umbruchs im Schienennetz rund um Stuttgart steht.

 

Nach dem Zweiten Weltkrieg habe ein dringender Bedarf bestanden, die Flotte zu modernisieren, sagt Hans-Joachim Knupfer, Pressesprecher der SSB. Er erinnert an Bombenschäden, den rapiden Bevölkerungszuwachs und größere Strecken, die abzudecken waren. Lange wurde also am großen Wurf gefeilt. Experimente mit einem sechsachsigen Fahrzeug seien beispielsweise gescheitert. „Das war zu groß für die hiesigen Verhältnisse“, erklärt Knupfer.

Wie maßgeschneidert war dann aber das Angebot, mit dem die später im Daimler-Konzern aufgegangene Maschinenfabrik Esslingen auf die SSB zukamen: ein großräumiger Vierachser, der dank eines Gelenks in der Mitte auch schärfere Kurven im Netz meistern konnte. Der GT4 bot überdies die Möglichkeit, die bis dato üblichen Anhänger einzumotten. Man habe die jeweils mit einem eigenen Motor ausgestatteten neuen Triebwagen einfach aneinanderkoppeln können, erklärt Knupfer. Im hügeligen Stuttgarter Raum sei das kein unwesentlicher Faktor. Die Bahnen seien am Berg nicht mehr von den Anhängern ausgebremst worden. „Das war die Revolution im Stuttgarter Fahrzeugpark“, betont der Pressesprecher.

Man ließ sich nicht lumpen, orderte 350 der Wagen, die in den Jahren 1959 bis 1964 in Esslingen produziert wurden. Der Stuttgarter (S) GT4, der in Aldingen auf einem eigens angelegten Gleisbett ausgestellt ist, lief 1963 vom Band. Aber wie das Leben so spielt, war irgendwann auch die Zeit dieses Modells abgelaufen. Und das hängt damit zusammen, dass die SSB Ende der 1970er-Jahre den Beschluss fassten, vom Straßenbahn- auf ein Stadtbahnsystem umstellen zu wollen. Heißt: Der Schienenverkehr sollte fortan möglichst über separate Trassen laufen, mit dem Vorteil, breitere Fahrzeuge einsetzen und flotter vorwärtskommen zu können. Der Umbau geschah nicht in einem Rutsch, sondern sukzessive, so dass die S-GT4-Reihe noch Jahre parallel zu den modernen Fahrzeugtypen auf bestimmten Strecken rollte.

„Am 8. Dezember 2007 war der letzte Betriebstag“, sagt Klaus Bassing, der als altgedienter Fahrzeugschlosser an unzähligen Bahnen geschraubt und sie gewartet hat. Die S-GT4, die heute bei der Haltestelle Hornbach zu bestaunen ist, sei am 18. Juli 2008 zum Betriebshof transportiert worden. „Das geschah auf Initiative einer innerbetrieblichen Fahrervertretung“, erinnert sich Bassing zurück. Der Wunsch sei gewesen, eine Bahn aus Cannstatt nach Remseck kommen zu lassen, die sinnbildlich für den Wechsel von rund 50 Mitarbeitern stehe. Hintergrund ist, dass der Betriebshof im Jahr 2000 aus dem Stuttgarter Stadtteil wegen der Erweiterung des Netzes in Richtung Remseck nach Aldingen verlagert wurde. „Für die Älteren ist das Symbol schon wichtig“, erzählt Bassing. Zunächst habe es auch Ideen gegeben, den Wagen vor Ort vielleicht für Meetings oder Schulungen zu nutzen. „Aber das ist alles eingeschlafen“, sagt Bassing. Und so rostet die einst so schmucke Bahn, die sogar bei der Abschiedsprozession am 8. Dezember 2007 eine Runde drehte, nun vor sich hin.

Ein kleiner Spaziergang durch den rund 20 Meter langen Wagen fühlt sich an wie eine Reise in die Vergangenheit. Die Sitze sind mit dem damals üblichen grünen Stoff überzogen, Hinweise wie „Aussteigen Bitte Knopf drücken“ aufgedruckt, statt über ein Display abrufbar, Abfallbehälter Fehlanzeige. Dennoch haben Modelle aus der Baureihe zum Teil bis vor Kurzem Personen befördert. Zumindest in Rumänien. „Der Wagen ist leider nicht für den Hersteller, aber später für die SSB zum großen Verkaufs- und Exportschlager geworden“, erklärt Hans-Joachim Knupfer. Mit dem Beschluss zur Umstellung auf das Stadtbahn-System seien mehr und mehr S-GT4-Modelle auf dem Abstellgleis gelandet. Begehrt waren die Fahrzeuge jedoch nach der Wende in Ostdeutschland und eben Rumänien, wo die Infrastruktur heruntergewirtschaftet war und wohin dann viele Wagen verkauft wurden. Doch selbst in Stuttgart verkehren die Oldtimer noch auf zwei innerstädtischen Strecken – wenn auch nur sonntags bei Museumsfahrten.

Platz für 40 Gäste und immer noch auf Achse

Der Vergleich
 Die am Betriebshof in Remseck-Aldingen stehende ausgemusterte Straßenbahn der Reihe S-GT4 ist 19 Meter lang, 2,10 Meter breit und 20 Tonnen schwer. Sie bot Platz für rund 40 Gäste und hat eine Leistung von zweimal 100 Kilowatt. Zum Vergleich: der heute bei den Stuttgarter Straßenbahnen (SSB) eingesetzte Wagentyp S-DT8 ist viermal 222 Kilowatt stark, 39 Meter lang, 2,65 Meter breit, 56 Tonnen schwer und mit rund 110 Sitzplätzen ausgestattet.

Linien
 Sonntags fahren Museums-Straßebahnlinien zwischen City und Strab-Museum sowie mit anderem Verlauf zwischen Museum, City und Ruhbank/Fernsehturm. Weitere Infos unter www.shb-ev.net/web/index.php?id=257.

Weitere Themen