Er hat sich noch einmal selbst übertroffen, der Meister der japanischen Anime-Filmkunst: „Der Junge und der Reiher“, nach eigenem Bekunden das finale Werk von Hayao Miyazaki (82, „Prinzessin Mononoke“), ist ein Fest der Farben und der Fantasie.
Hayao Miyazaki beginnt, wo er 2013 mit „Wie der Wind sich hebt“ aufgehört hat: bei der Bombardierung Japans im Zweiten Weltkrieg. Der Anime-Meister musste damals viel einstecken. Manche kritisierten, er huldige Jiro Horikoshi, dem Konstrukteur des wichtigen Jagdflugzeugs Mitsubishi A6M Zero, und verschweige, dass es mit koreanischen Zwangsarbeitern produziert wurde – rechtskonservative Japaner wiederum empfanden den Film als zu unpatriotisch. Miyazaki, zuvor stets ein klarer Pazifist, hatte sich wohl das falsche Thema ausgesucht – und erklärte kurz darauf seinen Rücktritt.
Einen Film hat der 82-Jährige aber noch gemacht. In „Der Junge und der Reiher“ erzählt er zunächst von einer Kriegstraumatisierung: Der zwölfjährige Mahito verliert im Bombenhagel 1943 seine Mutter. Sein Vater heiratet deren Schwester Natsuko und zieht mit ihm auf ihr Anwesen aufs Land. In der Schule bekommt der privilegierte Junge Ärger, und bald verfolgt ihn ein seltsamer Reiher, der eine sehr menschliche Seite hat.
Feuerzauber und Buddhismus sind zu Hause im Miyazaki-Multiversum
Als seine schwangere Stiefmutter verschwindet, lotst der Reiher Mahito zum verbotenen Geisterhaus am Rande des Anwesens. Hinter dessen Mauern entspinnt sich die eigentliche Geschichte – und Miyazakis Magie. Raum und Zeit lösen sich auf, eigentlich entkoppelte Realitätsebenen treffen aufeinander: willkommen im Miyazaki-Multiversum.
Die wilde Seglerin Kiriko und die Feuerzauberin Himi helfen dem Jungen. Beide scheinen stark und unbezwingbar, doch wie immer bei Miyazaki gibt es doppelte Böden. Nichts ist in Stein gemeißelt, alles befindet sich in stetem Wandel – eine zentrale These des Zen-Buddhismus steckt hier in den Bildern.
Weniger dominant als etwa in „Prinzessin Mononoke“, aber nicht minder eindrucksvoll, widmet der Regisseur eine Episode den Nöten der Natur. Menschen und Tiere konkurrieren um knappe Ressourcen, die Pelikane finden auch in der Parallelsphäre kaum noch Fische, weil diese an heranreifende Menschenseelen verfüttert werden. Also fressen die Vögel die Seelen, wenn diese in die irdische Welt aufsteigen – eine perfekte Parabel auf Raubbau und Artensterben.
Vögel sind überhaupt ein Thema, neben dem Reiher und den Pelikanen gibt es eine diktatorisch geführte Kolonie überdimensionaler Sittiche. Die gehen aufrecht, ernähren sich von Fleisch und tragen stets Messer und Hackebeilchen bei sich, falls zufällig Beute vorbeikommt – wie etwa Mahito.
Die Feuerwerkerin Himi macht das beste Marmeladenbrot der Welt
Bald liegt die bewusstlose Himi in einem gläsernen Sarg wie einst Schneewittchen. Sie soll dem Weltenlenker als Opfer dargeboten werden. Der versucht, vor einem schwebenden Felsen das Böse einzuhegen durch ein scheinbar willkürliches Spiel mit aufgetürmten Klötzchen. Dieser auf den Punkt inszenierte Strang erinnert daran, wie sehr Menschen sich oft nach Kontrolle sehnen und wie selten sie tatsächlich verlässlich über eine solche verfügen.
Auch die Sinnlichkeit kommt nicht zu kurz. Himi, auf einer anderen Zeitebene in völlig anderer Beziehung zu Mahito, macht in ihrem blumigen Häuschen am Meer das beste Marmeladenbrot der Welt. So wie der Almöhi einst das beste Raclettebrot gemacht hat, das die Anime-„Heidi“ in der Serie der 70er Jahre so gerne aß; dort hat Miyazaki seine Kunst eingeübt.
Himi ist eine seiner typischen Heldinnen, und auch Natsukos Haushälterinnen sind Wiedergängerinnen aus Filmen wie „Chihiros Reise ins Zauberland“. Nun könnte man Krokodilstränen darüber vergießen, dass der Meister abtritt – oder sich freuen, dass er ein gut bestelltes Feld hinterlässt: Makoto Shinkai („Suzume“) und Mamoru Hosoda („Belle“) führen die Anime-Filmtradition in Miyazakis Sinn fort, auch sie lassen keine Zweifel daran, dass trotz allem Hoffnung besteht – wenn die Menschen zu einem verträglichen Miteinander finden. Shinkai macht aus seiner Verbundenheit kein Geheimnis: Die Stadt, in der sein jüngstes Werk „Suzume“ spielt, heißt Miyazaki.
Anders als der Altmeister, der seit „Ponyo“ (2008) auf männliche Protagonisten umgeschwenkt ist, setzen seine Meisterschüler weiter auf kluge, mutige Mädchen, die die Menschen vor Bedrohungen aller Art retten – vor allem vor sich selbst.
Der Junge und der Reiher. Japan 2023. Regie: Hayao Miyazaki. 124 Min. Ab 12 Jahren