In „Fallende Blätter“ führt der finnische Meisterregisseur Aki Kaurismäki noch einmal lebensmüde Figuren zusammen in einem berührenden menschlichen Drama, das sich anfühlt, als wäre es sein letztes.

Helsinki scheint auf rätselhafte Weise aus der Zeit gefallen in „Fallende Blätter“, dem jüngsten, in Cannes mit dem Preis der Jury ausgezeichneten Film des finnischen Meisterregisseurs Aki Kaurismäki. Es gibt Mobiltelefone, aber deren Etui wird hier dazu genutzt, handschriftlich notierte Telefonnummern aufzubewahren – nur so sind die ganz großen Dramen von einst auch heute noch möglich.

 

Im Schaukasten des Kinos, das die Supermarktangestellte Ansa (Alma Pöysti) und der Bauarbeiter Holappa (Jussi Vatanen) besuchen, laufen alte französische Filme und jüngere von Jim Jarmusch, Kaurismäkis cineastischem Seelenbruder. Charlie Chaplin, Brigitte Bardot und Alain Delon kommen zu Ehren. Kaurismäki reiht sich ein bei den Cineasten, die zurückblicken auf die große Zeit des Kinos: Damien Chazelle im Musical „La La Land“ (2016) und der Hollywood-Hommage „Babylon“ (2023), Guillermo del Toro im Gruselmärchen „Shape of Water“ (2017), Quentin Tarantino in der cineastischen Farce „Once Upon a Time in Hollywood“ (2019), Steven Spielberg im Familiendrama „The Fabelmans“ (2022), Sam Mendes im romantischen Diversitätsdrama „Empire of Light“ (2023).

Kaurismäki zitiert sich selbst

Kaurismäki aber verabschiedet nicht nur das Kino in die Musealität, sondern offenbar auch sich selbst. Er blickt zurück auf sein Werk, zitiert sich selbst. Da steht Ansa verloren in der Welt, als wäre sie das „Mädchen aus der Streichholzfabrik“, da fangen Kerle bei null an, als wären sie der „Mann ohne Vergangenheit“. Ansa und Holappa gehören auf idealtypische Weise zu dem Kreis kleiner Lichter, die Kaurismäki bevorzugt aus dem Schatten auf die Leinwand holt: Kleinbürger mit großen Herzen, die sich durchlavieren, mehr oder weniger unverschuldet scheitern und trotz allem die Hoffnung nicht verlieren.

Männer sind Nichtsnutze, Frauen unterprivilegiert

Zwischen beiden erblüht eine unverhoffte Liebe. Die lässt sich nicht so leicht einlösen, denn der Regisseur stellt zum wiederholten Mal köstlich überzeichnet fest: Männer sind tendenziell patriarchalisch privilegierte Nichtsnutze, Säufer und Angeber, Frauen tendenziell fleißig, strukturell unterprivilegiert und einsam.

Dazu kommt eine dysfunktionale Kommunikation. „Harte Kerle singen nicht“, sagt Holappa angesichts einer drohenden Karaoke-Einlage. „Du bist kein harter Kerl“, erwidert Ansa. „Ich könnte aber einer sein!“ „Höchstens im Ausland, in Dänemark vielleicht.“ Ansas resolute Kollegin Liisa (Nuppu Koivu) und Holappas neurotischer Kollege Huotari (Janne Hyytiäinen) reden noch weitaus konsequenter aneinander vorbei.

Schubert und Putin

In einer unverwechselbaren Kaurismäki-Szene sitzen die Liebenden in Ansas karger Behausung und tauschen schweigend Blicke vor dem Transistorradio, aus dem Schubert’sche Liedkunst erklingt: „Des Verräters feindlich Lauschen / Fürchte, Holde, nicht“. Selbiges Radio schafft sonst vor allem eine düstere Grundierung: Hinter der verwunschenen Zeitenverquickung tobt ganz aktuell der Ukraine-Krieg. Tod und Zerstörung, Putins Verbrechen gegen die Menschlichkeit schwingen als stille Bedrohung immer mit.

Auch eine Spelunke hat Kaurismäki wieder aufgetan, wie man sie sich so in keiner anderen Filmwelt vorstellen kann: „Pub California“ heißt die schmucklose, triste Trinkhalle, in der Männer einander beim Verwittern zusehen und ihre Einsamkeit in Bier ertränken. Was denken die, wenn eine Frau sich dorthin verirrt? Sie muss verzweifelt sein – oder sehr dringend einen Job suchen.

Die Arbeitgeber sind schamlose Ausbeuter

Die Arbeitgeber sind, wie nicht selten bei Kaurismäki, schamlose Ausbeuter. Ein Supermarktdetektiv spielt seine klitzekleine Macht gnadenlos aus gegen die weiblichen Angestellten, wenn diese ein abgelaufenes Produkt einstecken, das sonst weggeworfen worden wäre. Vergeblich wartet der Denunziant in hündischer Pose auf eine Würdigung des gnadenlosen Chefs. Mit dem großartigen Frauen-Indie-Duo Maustetytöt präsentiert der Regisseur seine jüngste finnische Pop-Entdeckung, ein goldiger Hund sorgt für rührende Momente.

Und natürlich wird permanent viel getrunken, was einen Beigeschmack hat seit der Berlinale 2017. Da sollte Kaurismäki den Silbernen Regie-Bären in Empfang nehmen für sein zauberhaftes Flüchtlingsdrama „Die andere Seite der Hoffnung“ – doch er war offensichtlich nicht in der Lage, von seinem Platz im Berlinale-Palast aufzustehen. Die damalige Moderatorin Anke Engelke rettete die Situation ausgesprochen charmant, stieg von der Bühne, steuerte den Platz des Regisseurs an und sagte: „Wenn der Mann nicht zum Bären kommt, kommt der Bär eben zum Mann!“

Seither weiß alle Welt, was vorher ein offenes Geheimnis war. Und es ist schon ein kleines Wunder, dass Aki Kaurismäki noch einer dieser Filme gelungen ist, wie nur er sie machen kann. Also: Unbedingt genießen!

Fallende Blätter. FIN 2023. Regie: Aki Kaurismäki. Mit Alma Pöysti, Jussi Vatanen. 81 Minuten. Ab 12 Jahren

Aki Kaurismäki und seine Filme

Leben
 Am 4. April 1957 im finnischen Orimattila geboren, studiert er Literatur- und Kommunikationswissenschaften und gibt ein Filmmagazin heraus.

Karriere
  Mit seiner proletarischen Trilogie „Schatten im Paradies“ (1986), „Ariel“ (1988) und „Das Mädchen aus der Streichholzfabrik“ (1990) wird er international als Regisseur bekannt. 1989 frönt er in „Leningrad Cowboys Go America“ seiner Liebe zum nordischen Rock ’n’ Roll. Mit feinsinnigem Humor zeigt er „Das Leben der Bohème“ (1992) anhand dreier brotloser Künstler in Paris. „Wolken ziehen vorüber“ (1996) erzählt von Liebende, die ihre Jobs verlieren und hoffnungslos romantisch ein Restaurant eröffnen. Für das Sozialdrama „Der Mann ohne Vergangenheit“ (2002) bekommt er in Cannes den Großen Preis der Jury und eine Nominierung für den Auslands-Oscar. 2006 weigert er sich, „Lichter der Vorstadt“ bei den Oscars einzureichen wegen des Irakkriegs. In „Le Havre“ (2011) widmet Kaurismäki sich ebenso dem Elend gestrandeter Flüchtlinge und denen die ihnen helfen, genau wie in „Die andere Seite der Hoffnung“ (2017), für den er bei der Berlinale den Silbernen Regie-Bären bekommt.