Kilometergenaue Abrechnungen und eine Belastung aller Autos auf Fernstraßen – dies fordert der Verkehrsforscher Matthias Gather im Interview der Stuttgarter Zeitung.

Familie, Bildung, Soziales : Michael Trauthig (rau)
Stuttgart – - Die Mittel für Infrastruktur müssten künftig intelligenter eingesetzt werden, sagt Matthias Gather. Er beklagt, dass die Infrastruktur auf Verschleiß gefahren wurde und dass zu viel Prestigeprojekte Mittel gebunden haben.
Herr Gather, poröse Straßen und bröckelnde Brücken, ist die deutsche Verkehrsinfrastruktur so schlecht, wie es scheint?
Zahlreiche Studien und auch die alltägliche Anschauung belegen, dass sich die deutsche Verkehrsinfrastruktur wirklich in einem abgewirtschafteten Zustand befindet. Dennoch sind die Autobahnen natürlich sicher, stürzen Brücken nicht ein. Insofern gibt es keinen akuten Grund zur Besorgnis. Kurzum: seit Jahren hätte das Land mehr für die Erhaltung tun müssen. Stattdessen haben wir die Infrastruktur auf Verschleiß gefahren, und die Probleme werden immer größer.
Haben andere Staaten ihre Hausaufgaben in diesem Bereich besser gemacht?
Das ist schwer zu sagen. Deutschland liegt in Europa hinsichtlich der Pro-Kopf-Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur im Mittelfeld. Dabei ist aber zu beachten, dass die Bundesrepublik über ein umfängliches und damit kostenträchtiges Schienen- und Straßennetz verfügt; die relativ hohen Ausgaben in Skandinavien und der Schweiz für Verkehrswege dagegen sind zum Teil durch die Witterung, die besondere Ansprüche an den Bauwerksunterhalt stellt, bedingt. Ein einfacher Vergleich ist somit nicht möglich.
Gibt es denn überhaupt in Deutschland einen flächendeckenden, aussagekräftigen Zustandsbericht für die Bauwerke?
Für die Schienenwege und die Bundesfernstraßen gibt es einen solchen Bericht, der nach Straßenkategorie und Bauwerk Schulnoten verteilt. Für das nachgeordnete Straßennetz fehlen solche belastbaren Analysen. Vieles lässt sich allerdings auch berechnen. Man weiß, dass Straßenbeläge oder Brücken eine bestimmte Lebensdauer haben, wann durchschnittlich Ersatzinvestitionen anfallen. Die Verantwortlichen können sich somit nicht damit herausreden, sie hätten nichts gewusst.
Wenn dies jeder wissen konnte, warum ist es dann so weit gekommen?
Im Blick auf die Straßen gibt es die größten Probleme gar nicht bei den Bundesfernstraßen, sondern im kommunalen Bereich. Da fehlt schlichtweg das Geld, zumal der Handlungsdruck nicht so groß ist. Zur Not wird eben der Komfort schlechter, teilweise gibt es Geschwindigkeitsbeschränkungen.
Schiene, Wasser, Straße – wo muss die Politik denn künftig Schwerpunkte setzen?
Einerseits kann es nicht angehen, dass eine Autobahnbrücke teilweise dicht gemacht wird – wie jüngst geschehen. Andererseits müssen und können nicht alle Straßen in einem Tipptopp-Zustand sein. Denn der Straßenverkehr in seiner heutigen Form ist endlich und wird künftig an Bedeutung verlieren. Das heißt, wir sollten das Bestehende in einem nachhaltig guten Zustand halten, aber beim weiteren Ausbau sehr vorsichtig sein. Sinnvoller wäre es, die Schiene zu stärken.
Warum ist der Straßenverkehr endlich?
Wir stellen jetzt schon Sättigungstendenzen fest. So wächst der motorisierte Individualverkehr nicht mehr so stark wie früher. Junge Menschen haben weniger Führerscheine, fahren weniger Auto. Außerdem spielt die Bevölkerungsentwicklung eine Rolle. Dort, wo die Bevölkerung wächst – in Süddeutschland – legt auch der Verkehr noch zu. In anderen Gebieten gibt es aber sogar Rückgänge. Und beim Straßengüterverkehr gab es zuletzt ein Auf und Ab.
Der Bundesverkehrsminister sagt aber ein deutliches Plus des Lastwagenverkehrs für die Zukunft voraus.
Selbst wenn diese – durchaus umstrittene – Prognose sich bewahrheitet, kann doch niemand eine Politik wollen, die den Trend befördert. Vielmehr müssen wir das Wirtschaftswachstum vom Verkehrswachstum entkoppeln. Vorbild dafür ist der Energiesektor. Da haben wir es geschafft, dass die Wirtschaft zulegen kann, ohne dass automatisch wie früher der Energieverbrauch steigt. Um die Entkopplung vom Verkehr hinzubekommen, sind die Transportwege zu optimieren. Außerdem ist die Produktion umzustellen. Momentan ist die stark vernetzt, was zu vielen Transporten führt, die eben zu billig sind. Eine Tonne mit dem Auto einen Kilometer zu befördern kostet etwa fünf bis zehn Cent. So kommt es, dass man die schon legendären Krabben zum Pulen nach Nordafrika bringt und dann wieder zurück. Wenn wir den Transport verteuern, lässt sich viel Verkehr vermeiden. Die Gesellschaft wird diese Entwicklung gehen.
Wie soll die Verteuerung kommen?
Die Lastwagenmaut ist ein guter Schritt dafür. Neben einer Ausweitung auf das gesamte Straßennetz gehören hier aber zunächst die Ausnahmen für leichtere Wagen abgeschafft. Befreit sind momentan Lastwagen unter zwölf Tonnen. Das hat zum rasanten Wachstum dieser Wagenklasse geführt, um die Maut zu umgehen. Als Zweites können die Preise heraufgesetzt werden, wodurch sich das Finanzierungsproblem lösen ließe. In der Schweiz zum Beispiel kostet der Kilometer mit dem Lkw durchschnittlich einen Franken. Das senkt die Attraktivität von Lastwagenfahrten enorm. Als Drittes muss die Alternative Bahn, die bisher zu unzuverlässig ist, besser werden, um eine Verlagerung zu erlauben.
Sind in der Vergangenheit eigentlich zu viele Prestigeprojekte gebaut worden?
In jedem Fall ist die Sanierung vernachlässigt worden, weil so etwas nicht sexy ist und Politiker damit nicht beim Wähler punkten können. Eine Straßen- oder Brückensanierung bringt wenig Zuspruch. Die behindert oft den Verkehr, und hinterher merkt kaum jemand den Fortschritt. Der Verkehrsbereich hat insgesamt aber eine hohe Affinität zu Prestigeprojekten. Da schmückt man sich mit einer modernen ICE-Neubaustrecke durch den Thüringer Wald, mit Regionalflughäfen oder Autobahnabschnitten. Für Politiker ist das eine große Versuchung, aber auch für die Bürger, die das fordern.
Auch die Wirtschaft mahnt oft solche Investitionen an.
Das stimmt. Doch unsere Forschung hat gezeigt, dass sich auf diese Weise die Wirtschaft nicht fördern lässt. Wir haben mehrere große Autobahnprojekte untersucht, die mit großen Versprechungen gebaut wurden, die sich hernach nicht erfüllten. Weder die Arbeitsplatze noch die Investoren kamen.
Welche Vorhaben waren das?
Zum Beispiel die Ostseeautobahn, die Weser-Ems-Autobahn und die A 71 in Thüringen. Die Ostseeautobahn hatte schon laut der Planung ein schlechtes Kosten-Nutzen-Verhältnis, welches sich später auch bewahrheitet hat. Bei den meisten anderen Projekten waren die Kosten deutlich höher als erwartet und der Verkehr um 30 bis 60 Prozent geringer als erst kalkuliert. Vom Aufkommen her hätte da jeweils eine normale Bundesstraße gereicht.
Wo soll nach Ihrer Meinung das zusätzlich nötige Geld für den Verkehr herkommen?
Es muss eine intelligente Straßenmaut kommen – für alle Fahrzeuge – also auch Pkw – auf allen Fernstraßen. Die Abrechnung muss kilometergenau erfolgen, nach Fahrzeugklassen gestaffelt und Umweltwirkungen und danach, ob das Verkehrsaufkommen gerade hoch oder niedrig ist. Wir hätten dann ein ähnliches Preissystem wie die Bahn. Das wäre gerecht und ökologisch sinnvoll.

Seit 1996 ist Matthias Gather Professor für Verkehrspolitik und Raumplanung an der Fachhochschule Erfurt. Seit 2003 leitet er darüber auch das von ihm gegründete Forschungsinstitut Verkehr und Raum.

 

Der 1958 geborene Hochschullehrer beschäftigt sich besonders mit den Wechselwirkungen zwischen der politischen Steuerung von Verkehrsentwicklung und den räumlichen Prozessen. Dabei hat er schwerpunktmäßig die Herausforderungen durch den demografischen Wandel im Blick. Aufsehen erregten unter anderem seine Untersuchungen zu den Folgen bestimmter Autobahnprojekte.