Unterwegs in eine bessere Welt: Ingo Schulze erzählt in „Peter Holtz“ die deutsch-deutsche Geschichte als Schelmenroman.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Eine Szene aus dem deutschen Urbild aller Schelmenromane, Grimmelshausens „Simplicius Simplicissimus“: Landsknechte überfallen den Hof, in dem der Ich-Erzähler aufwächst. Das Kind beobachtet, wie die Marodeure seinem gefesselten Vater die Fußsohlen mit Salz bestreichen und eine Ziege daran lecken lassen, was diesen vor Lachen beinahe bersten lässt. „Das kam so artlich, dass ich Gesellschaft halber, oder weil ichs nicht besser verstund, von Herzen mitlachen mußte.“

 

Vielleicht ist das die Urszene für das Weltverhältnis, das der Gattung den Namen gab. Der Schelm blickt mit heiliger Unschuld auf die Übel der Welt und versucht, ihnen das Beste abzugewinnen. So mogelt er sich durch und rettet sich durch den klaffenden Zwiespalt zwischen naiver Überzeugung und nüchterner Erfahrung, bis er am Ende desillusioniert der entzauberten Welt den Rücken kehrt.

Ideologieverfallenheit und Ideologiekritik finden im Schelm zusammen. Und so ist es eigentlich verwunderlich, dass die deutsch-deutsche Geschichte erst jetzt aus dieser Perspektive betrachtet wird: in Ingo Schulzes neuem Roman „Peter Holtz – Sein glückliches Leben erzählt von ihm selbst“. Immer wieder hat der 1962 in Dresden geborene Autor das Diesseits und Jenseits der Wende, Hoffnungen und Enttäuschungen in seinen Werken zusammengebracht. In literarischer Hinsicht zählen seine „33 Augenblicke des Glücks“ und „Simple Storys“ zu den glücklichsten Resultaten der Wiedervereinigung – eben weil sie daran erinnern, was alles offen blieb.

Zwischen Kinderheim und Psychiatrie

Nun schickt er seinen Titelhelden auf eine abenteuerliche Reise durch die Jahre zwischen 1974 und 1998. Sie führt von den Verheißungen des real existierenden Sozialismus über die Segnungen des Glaubens („Der Kommunismus ist nur die andere Seite des Christentums“) ins neoliberale Herz des Kapitalismus. Denn: „Der Weg zu einer Gesellschaft, in der die freie Entfaltung eines jeden die Voraussetzung für die freie Entfaltung aller ist, also zum Kommunismus, führt eben nicht über den Sozialismus, wie wir gemeint haben, sondern offenbar doch länger als angenommen über die Phase des Kapitalismus.“

Schulzes zeitgenössischer Simplicius bricht auf in einem Kinderheim der DDR und endet in einer Nervenheilanstalt der BRD. Aber egal, wohin es ihn verschlägt, ist er von Herzen dabei, in der festen Überzeugung, unterwegs in eine bessere Welt zu sein. Welcher optimistische Überschwang wiederum in groteske Situationen führt, die den Leser von Herzen mitlachen lassen, wo es in Wirklichkeit um Verblendung, Indoktrination und Überwachung geht. Dem reinen Toren, der um der guten Sache willen arglos seine Mitschüler verpfeift, sich begeistert als Spitzel anwerben lässt, aber ebendies auch überall ausposaunt, bis es der Stasi selbst vor ihm graust, schlagen seine wohlmeinenden Irrtümer stets zum Glücklichen aus.

Ein Deutsch-deutscher Forrest Gump

In der BRD häuft er aus ruinösem DDR-Besitz ein Millionen-Vermögen an, das er schließlich in einer letzten als Kunst-Aktion inszenierten großen Erkenntnis-Volte verfeuert. „Es ist die höchste Kunst, mit Geld so umzugehen, dass es keinen Schaden anrichtet, sondern zu Gutem führt“, sagt dieser deutsch-deutsche Forrest Gump einmal zu dem sozialdemokratischen Kanzlerkandidaten Gerhard Schröder, einer von vielen realen Figuren, die hier begegnen, aber die einzige unter ihrem echten Namen.

Zeitgeschichte ist durchsetzt mit Märchenmotiven. Unter ihnen drängt sich vor allem das von Hans im Glück auf – und zwar nicht allein wegen der antikapitalistischen Stoßrichtung. So entwaffnend komisch sich manche Szene aus der Situation entwickelt, so schwer hängen dem Leser zusehends lange Dialogketten wie ein Mühlstein um den Hals. Als zäher Diskussionsgegenstand schlägt die abservierte Ideologie zurück. Umso befreiender das Ende. Weniger ist mehr – das muss sich nicht nur auf das Verhältnis zum Geld beziehen.

Ingo Schulze: Peter Holtz. Sein glückliches Leben erzählt von ihm selbst. Roman. S. Fischer Verlag. 572 Seiten, 22 Euro.