Benachteiligte Menschen sollen besser integriert werden, doch das funktioniert nicht immer. Viele Schwerstbehinderte bleiben auf der Strecke. StZ-Autor Martin Tschepe über seine Erfahrungen als Betreuer einer behinderten Frau.

Waiblingen - Aaada!“ Sie ist nicht zu überhören. Wie immer. „Aaada“ schallt es durch die Räume des Behindertenwohnheims im Remstal. Helga Feyerabend ist eine kleine Person. Keine 1,50 Meter groß. Aber sie macht sich lautstark bemerkbar. „Aaada!“, ruft Helga noch mal und noch mal. „Aaada“ ist eines der ganz wenigen Worte, die die 66-Jährige halbwegs verständlich aussprechen kann. Aaada heiß etwa: „Geh mit mir raus. Jetzt, auf der Stelle!“ Am liebsten lässt sich Helga, die seit ihrer Kindheit im Heim lebt, mit dem Auto chauffieren. Dabei ist es ihr ziemlich wurscht, wohin die Reise geht. Eine Spritztour in die nähere Umgebung oder sehr gern auch eine Urlaubsfahrt in den Süden. Zweimal ist sie mit ihrer Wohngruppe in Südfrankreich gewesen, lange her.

 

Seit vielen Jahren wird in den Heimen das Geld zusammengestrichen. In der stationären Behindertenhilfe jagt eine Sparrunde die nächste. Heute sind längst nicht mehr so viele Mitarbeiter auf den Wohngruppen beschäftigt wie vor fünfzehn oder vor zwanzig Jahren. Eine einwöchige Urlaubsfahrt? Ist für die Seniorin, für ihre Mitbewohner sowie das Mitarbeiterteam kaum mehr drin.

Wenn ich Helga abhole, dann fahren wir meistens für zwei oder drei Stunden in den Schwäbischen Wald. Gleich nach dem Verlassen des Wohnheims steuert sie schnurstracks auf mein Auto zu, schnallt sich an – und strahlt. Sobald der Motor läuft, ruft der Passagier wieder: „Aaada!“ Was diesmal heißt: „Fahr endlich los!“ Unterwegs halten wir mindestens einmal an – zum Essen. Und später mitunter noch mal zum Spazierengehen. Während des ersten Stopps gibt es bei einem Stehimbiss mitten in Welzheim eine fettige Bratwurst mit viel Senf oder bei McDonald’s in Backnang einen Hamburger und Pommes mit viel Ketchup.

Eine überschaubare Umgebung

Helga ist schwerstbehindert. Sie kann ganz ordentlich gehen, kapiert mehr als ein unbedarfter Beobachter zunächst annimmt. Doch ihre Fähigkeiten sind arg beschränkt. Sie hat nie eine Schule besucht. Wäre sie ein paar Jahre früher geboren worden, Helga hätte kaum eine Überlebenschance gehabt. Menschen wie diese liebenswürdige kleine Person, die auch mal garstig sein kann, wurden in Nazideutschland ermordet. Für unnütze Esser gab es im Tausendjährigen Reich keinen Platz. Helga hatte Glück. Sie hat im Januar 1947 in Esslingen das Licht der Welt erblickt.

Bald stellte sich heraus, dass ihr Hirn sehr stark geschädigt ist, dass sie niemals ein normales Leben wie ihre Mutter und ihr Vater würde führen können. Die Eltern waren überfordert. Die Tochter landete in einem Heim. Das ist viele Jahrzehnte her. Helga hat sich längst eingelebt in dem Wohnheim im Remstal, kennt sich aus in ihrer überschaubaren Umgebung. Ist ganz offenkundig meistens recht zufrieden.

Keine Frage, vieles könnte besser sein in Helgas Welt. Fehlendes Geld spielt dabei eine Hauptrolle. Weniger Geld bedeutet weniger Mitarbeiter und deshalb zwangsläufig weniger Freizeitbeschäftigung für die Heimbewohner. Statt ausreichender Finanzmittel gibt es neuerdings gute Ratschläge. Seit ein paar Jahren heißt das Zauberwort Inklusion.

Die wenigsten Politiker, die mit diesem Fach- und Modebegriff jonglieren, können überhaupt erklären, was sie damit meinen. Für sie steht aber fest: Integration, das war gestern. Heute sollen schwerstbehinderte Männer, Frauen, Jugendliche und Kinder – Leute wie Helga – mit Inklusion beglückt werden. Die Aktion Mensch beschreibt Inklusion so: Jeder erhalte die Möglichkeit, „sich vollständig und gleichberechtigt an allen gesellschaftlichen Prozessen zu beteiligen“: in der Schule, im Berufsleben, im Urlaub, im Alltag – immer und überall. Hört sich richtig gut an. Ist für viele Behinderte auch eine gute Möglichkeit. Für Menschen wie Helga aber eine Illusion. Viele schwerst mehrfachbehinderte Menschen bleiben auf der Strecke. Sie werden bei der herrschenden Inklusionseuphorie bestenfalls vergessen – oder bewusst ignoriert.

Nicht jeder lässt sich integrieren

Es gibt aber diese Menschen, die sich nicht integrieren lassen, weil es schlicht unmöglich ist oder weil sie es selbst gar nicht wollen. Helga könnte unmöglich arbeiten gehen, auch nicht in einer Werkstatt für Behinderte. Sie ist viel zu unruhig, zu umtriebig, zu unkonzentriert. Andere schwerbehinderte Menschen, die mit Helga im Heim wohnen, haben auch nichts zu erwarten von der viel gepriesenen Inklusion, weil sie extrem (auto)aggressiv sind und Schutz brauchen – nicht zuletzt Schutz vor sich selbst, weil sie sich im beschützten Rahmen eines größeren Wohnkomplexes wohlfühlen, weil sie nur in einem Heim Gleichgesinnte treffen, um eine Partnerschaft zu begründen, und weil sie untergehen würden draußen in der weiten Welt.

Inklusion steht für Außengruppen, in denen Behinderte mit anderen eine Wohngemeinschaft bilden und in einem normalen Wohnviertel ihren Alltag selbstständig organisieren – vom Einkauf bis zur Zimmerordnung. Ein Betreuer besucht die WG zu fest ausgemachten Zeiten, schaut, ob alles läuft, und hilft bei Problemen. Für Helga undenkbar, sie kann sich nicht artikulieren, könnte niemals ihren Alltag meistern, auch nicht mit gelegentlicher Hilfe der Mitbewohner. Für sie und viele andere ist das Behindertenheim die richtige Wohnform. In einer Außenwohngruppe würde Helga vereinsamen, besonders in Zeiten des Personalabbaus. Wer genau hinguckt, der sieht auch, dass es viele Behinderte gibt, die in den gepriesenen Außenwohngruppen versauern, im Alkohol die Rettung suchen und schließlich scheitern.

Helga könnte keine hundert Meter allein auf Achse gehen, sie würde sich verlaufen. Wo umzäunte Wohnheime radikal abgeschafft werden, sind Menschen wie sie nicht mehr so eigenständig wie zuvor. In geschützten Heimen können sich schwerbehinderte Menschen außerhalb der Gebäude – aber hinter Mauern – immerhin allein bewegen. Lebten sie in einer Außen-WG, sie müssten in die Wohnung gesperrt werden, weil sie sonst verloren gingen. Menschen wie Helga fallen in ihren Außenwohngruppen künftig niemandem mehr auf und werden vergessen.

Einwände werden abgeschmettert

Fachleute an der Basis – Erzieher, Heilerziehungspfleger und Heilpädagogen – erzählen Geschichten von Behinderten, denen Inklusion mehr schadet als nützt, meistens nur in vertrauter Runde und hinter vorgehaltener Hand. In sozialpolitischen Diskussionen, vor Ort wie in der großen Politik, spielen die Vorteile der stationären Unterbringung behinderter Menschen aber kaum eine Rolle mehr. Einwände gegen eine Inklusion für alle und jeden, geäußert von engagierten Pflegern oder Eltern, werden oft abgeschmettert. Früher sollten möglichst alle Behinderten in Heime am Ortsrand abgeschoben werden. Jetzt werden alle rausgeworfen in die Gesellschaft. Aus Inklusion scheint eine Ideologie zu werden.

Helga kann solchen Überlegungen nicht folgen. Sie lebt, wo sie hingesteckt wird. Gut möglich, dass eines Tages ein Sozialplaner auf die Idee kommt, die Frau im Rentenalter in einer Außenwohngruppe in Esslingen unterzubringen. „Reintegration in der alten Heimatstadt“ könnte die Begründung lauten. Freunde, Verwandte, Bekannte hat sie keine in Esslingen, aber solche Details interessieren die Verantwortlichen leider nicht immer.

Die Spritztour mit Helga geht zu Ende so wie dieser graue Herbsttag. Das Auto steht wieder auf dem Parkplatz. Ungelenk schraubt sich der Passagier aus dem Wagen und marschiert in Richtung Wohnheim. Nach dem Öffnen der Eingangstüre ertönt wieder ihr lautes „Aaada!“ – was nun etwa bedeutet: „Hallo, ich bin zurück!“ Helga reißt sich die Jacke vom Leib. Dann lässt sie sich auf das Sofa fallen. Dieser Tag dürfte einer der besseren in ihrem Leben gewesen sein. Ein bisschen Abwechslung ist für sie wichtiger als ein vermeintlich großer Wurf der Sozialpolitiker.

Angaben zum Autor

Der Autor
: Martin Tschepe, 48, ist seit 20 Jahren Redakteur. Im ersten Berufsleben war er Sozialpädagoge. Tschepe hat inklusive Zivildienst und Studium fast zehn Jahre lang in der Behindertenhilfe und Anfang der neunziger Jahre auch in Helga Feyerabends Wohngruppe gearbeitet. Als er längst Redakteur war, wurde er gefragt, ob er ihre Betreuung übernehmen wolle. Seither geht er alle paar Wochen mit ihr auf Spritztour – Helga liebt das Autofahren.

Der Betreuer:
Tschepe ist seit 15 Jahren der vom Notar bestellte, gesetzliche Betreuer von Helga Feyerabend. Als solcher muss er sich (nicht nur) bei wichtigen Entscheidungen ein genaues Bild davon machen, welche Bedürfnisse sein Schützling hat, was Helga gut tut, was sie gerne möchte und was nicht. So muss er etwa in ihrem Namen einer Urlaubsfahrt oder einer OP zustimmen.