Kultur: Stefan Kister (kir)
Ihr Buch ist aber auch ein Schatzkästlein fantasievoller Intellektuellen-Schelte: von Wolkenschiebern des Zeitgeists ist da die Rede, von Gewissenspflegern der Nation, Postillonen des Sinns.
Das kommt nicht aus mir. Die haben mich dazu gebracht, mich so ausdrücken zu müssen. Als ich anfing zu schreiben, galt das Gebot, man müsse um jeden Preis „zeitkritisch“ sein. Ich habe schon früh gesagt, dass ich es für töricht halte, zu glauben, ein Schriftsteller müsse die Gesellschaft kritisch erzählen, als sei er selbst außerhalb der Gesellschaft in einer reinen Beobachterposition. Er gehört dazu. Wenn er über die Gesellschaft schreibt, schreibt er von sich.
Das führt zu der Paulskirchen-Rede von 1998. Sie erklären da, sich nicht in den Meinungsdienst nötigen lassen zu wollen, andererseits hat kaum eine Äußerung den Meinungsmarkt so aufwallen lassen, wie die fortan in einer Eigendynamik des Missverstehens immer wieder zitierten Reizwörter der „Instrumentalisierung“ von Auschwitz, der „Dauerpräsentation unserer Schande“, der „Moralkeule“.
Diese Rede ist der Inbegriff meiner möglichen und unmöglichen Verhaltensweisen. Bis auf die heutige Zeit muss ich mich immer wieder dazu verhalten. Ich bedaure zutiefst, dass ich im Satz von der Instrumentalisierung keine Namen genannt habe: Gemeint habe ich Walter Jens, Günter Grass und andere Kollegen, die immer wieder verkündet haben, die Teilung sei eine Strafe für unsere Verbrechen in Auschwitz. Ich halte das in jeder Hinsicht für falsch. Die Teilung war ein Produkt des Kalten Kriegs und keine Strafe. Das habe ich mit Instrumentalisierung gemeint. Ignatz Bubis, der damalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, und andere verstanden das aber so, als hätte ich auf jüdische Entschädigungsansprüche angespielt. Nichts wäre mir fremder und unmöglicher als diese Überlegung. Wer meinen Roman „Verteidigung der Kindheit“ gelesen hätte, wüsste das. Aber alle nehmen nur Reden und Aufsätze zur Kenntnis. Kein Mensch liest Romane.
Ihre Kritik am öffentlichen Umgang mit den NS-Verbrechen war aus dem Gefühl gespeist, dass man der Ungeheuerlichkeit der Schuld in den Formen einer öffentlichen Sühne-Praxis nicht gerecht werden kann. Unterstellt wurde Ihnen gerade das Gegenteil, Ihr Ungenügen an den Routinen des Gedenkens sei vom Bedürfnis eines Schlussstrichs getragen.
Wie konnte man mir das Wort Schlussstrich nachrufen. Was ist das für ein Kulturbetrieb, was für eine Meinungsmaschine? Ein Schlussstrich kommt bei mir nie vor. Aber wenn der damalige Feuilleton-Chef der FAZ, Frank Schirrmacher einen Skandal brauchte, dann stand eben plötzlich dieses Wort im Raum.
Wie berührt es Sie, wenn heute die AfD aus dem Zusammenhang gerissene Wendungen zu ihren Zwecken instrumentalisiert, von einer Monumentalisierung unserer Schande spricht und gegen die Gedenkkultur agitiert?
Ach wissen Sie, wenn Jurek Becker etwas gegen mich sagt, empfinde ich das schmerzlich. Wenn irgendein AfD-Funktionär mich missbraucht, bin ich schon fast nicht mehr geneigt oder fähig, das wahr zu nehmen.