Algorithmen können rassistisch sein – das zeigte der digitale Schönheitswettbewerb Beauty.AI. Der Stuttgarter Philosoph Philipp Hübl spricht über die Sinnhaftigkeit solcher Wettbewerbe und die Herausforderungen der digitalen Welt.

Stuttgart - Sind braune Augen hübscher als blaue? Und sehen blonde Haare schöner aus als braune? Diese Fragen sind schwer zu beantworten, denn Schönheit ist subjektiv. Wir empfinden zwar grundsätzlich symmetrische Gesichter mit einem jungen Aussehen als hübsch, doch der Rest ist Ansichtssache. Oder nicht? Einige Wissenschaftler sahen das anders. Sie versuchten, Schönheit objektiv messbar zu machen und riefen Beauty.AI ins Leben.

 

Beauty.AI ist der erste Schönheitswettbewerb, in dem alle Teilnehmer objektiv bewertet werden sollten, von einer „Roboterjury“, tatsächlich von einem digitalen Algorithmus. Mehr als 6000 Personen aus aller Welt schickten Fotos von sich ein, ohne Make-up, Bart oder Brille. Der Algorithmus bewertete unter anderem, wie viele Falten ein Gesicht hatte oder wie symmetrisch es aussah.

Anfang September veröffentlichten die Wissenschaftler die insgesamt 44 Gewinnerfotos, und ernteten einige Kritik. In den verschiedenen Altersgruppen gewannen hauptsächlich Weiße. Auch einige asiatische Gesichter schmücken das Siegertreppchen, aber dunkelhäutige Personen sind fast gar nicht dabei. Der Vorwurf lautete, dass der Algorithmus rassistisch ausgewählt habe. Zusätzlich brachte die Auswahl ins Grübeln: Die Gewinnerbilder zeigen zwar ganz normale Leute, doch als außergewöhnlich hübsch empfanden sie viele Kritiker nicht.

Wie sinnvoll ist es, Schönheit digital erfassen zu wollen? Und welche Konsequenzen hat unser Glaube in die Objektivität von Computern? Der Philosoph Philipp Hübl antwortet auf diese Fragen. Er ist Juniorprofessor für Theoretische Philosophie an der Universität Stuttgart und erforscht die Philosophie des Geistes.

Herr Hübl, was ist überhaupt ein Algorithmus?
Ein Algorithmus ist ein effektives Problemlöseverfahren. Ein „Problem“ könnte die Aufgabe 2+2 sein. Der Algorithmus liefert die Antwort 4. Jeder Mensch, der rechnen kann, beherrscht also den Algorithmus „Addition“. Computerprogramme sind auch Algorithmen. Sie bekommen zum Beispiel ein „Problem“ gestellt wie „Finde auf der Karte den kürzesten Weg nach Rom“ und berechnen dann die Strecke.
Die Mehrheit der 44 Gewinner ist weiß. Auffallend wenig dunkelhäutige Menschen haben gewonnen. Kann ein Algorithmus rassistisch sein?
Hier gibt es mindestens drei Möglichkeiten. Nummer eins: Der Algorithmus war einfach schlecht programmiert. Nummer zwei: Der Algorithmus war zwar gut programmiert, doch der anfängliche Input bestand nur aus Gesichtern von Weißen und Asiaten. So hat der Firmenchef zumindest das zweifelhafte Ergebnis gerechtfertigt. Die dritte Möglichkeit sollte man auch immer bedenken: Die Programmierer könnten bewusst oder unbewusst rassistisch gewesen sein. Das kann man nur durch weitere Testläufe ausschließen.
Viele Gewinnerfotos zeigten „nur“ normale, aber keine herausragend hübsche Personen. Wie kann das passieren?
Jedes Programm ist nur so gut wie seine Programmierer. Wenn das Programm nicht diejenigen Kandidaten auswählt, die viele Menschen für besonders schön halten, dann funktioniert es offenbar nicht richtig.
Ist Schönheit vielleicht schlicht nicht in Zahlen messbar?
Menschliche Schönheit hat universelle und kulturspezifische Aspekte, denn wir haben einen angeborenen Schönheitssinn, sind aber auch von den Umständen geprägt. Stark asymmetrische Gesichter finden wir zum Beispiel niemals schön. Auch die Proportionen zwischen Augen, Mund und Nase müssen stimmen. Ob wir jedoch buschige oder dünne Augenbrauen mögen, lange oder kurze Haare, volle oder hohle Wangen, kann mit der Zeit und der Mode schwanken.
Botox und Make-up unterstützen universelle Merkmale, denn Männer, aber auch Frauen finden bei anderen Frauen junge, faltenfreie Gesichter am schönsten, und zwar unabhängig von ihrer Kultur. Ob man das akzeptieren und dabei mitmachen möchte, bleibt natürlich jedem überlassen. Wenn ein Programm Faltenfreiheit als Kriterium für Schönheit ansieht, dann verhält es sich jedenfalls nichts anders als die meisten Menschen.
Sollte man überhaupt versuchen, Schönheit zu bewerten?
Der Blick für das Schöne, speziell für die Attraktivität anderer Menschen, ist so tief in uns verwurzelt, dass wir uns nur mit Mühe einem spontanen Urteil enthalten können. Der Schönheitsdiskurs der Modemagazine und der Kosmetikindustrie verstärkt diese Neigung noch. In einer Kultur, in der all das weniger Bedeutung hätte, wäre das Leben sicherlich entspannter.
Was halten Sie von digitalen Schönheitswettbewerben wie Beauty.AI?
Schönheitswettbewerbe sind Relikte aus dem Patriarchat des letzten Jahrhunderts. Dort werden Frauen und selten auch Männer zur Schau gestellt und objektifiziert. Aus feministischer Sicht haben solche Veranstaltungen mindestens einen Aufschrei verdient, denn mit einer modernen, aufgeklärten Ethik sind sie nicht vereinbar. Also: Schönheitswettbewerbe braucht kein Mensch, digitale schon gar nicht. Eine „Health.AI“ wäre sinnvoller. Oder noch besser: ein Wettbewerb, in dem verschiedene Gesundheits-Algorithmen gegeneinander antreten. Möge der Beste gewinnen.
Dieses Ziel verfolgen die Veranstalter sogar: Anhand von Fotos möchten sie künftig den Gesundheitszustand einer Person bewerten. Fitnessarmband und Co. gibt es ja bereits. Ist die Verantwortung über unsere Körper und unsere Gesundheit in digitalen Händen besser aufgehoben?
Schon Aristoteles hat festgestellt, dass wir nicht nur für unsere Taten, sondern auch für unsere Gesundheit verantwortlich sind. Wenn uns die Technik durch Bluttests, Ultraschall, Software oder intelligenten Toiletten dabei hilft: umso besser. Doch die Entscheidung, diese Geräte zu verwenden, treffen wir immer noch selbst.
Vertrauen wir bei dieser Entscheidung zu leichtfertig auf die Objektivität künstlicher Intelligenz?
Die Antwortet lautet eindeutig: ja, vor allem wenn man bedenkt, wie viele Autofahrer schon sklavisch ihrem Navi gefolgt und so in Flüsse oder Sandhaufen gefahren sind. Wir Menschen lieben zwar unsere Autonomie, geben aber auch schnell die Kontrolle ab, wenn wir nicht aufpassen und eine vermeintliche Autorität in unserer Nähe ist. Gleichzeitig können Programme für den geübten Nutzer ein Segen sein – zum Beispiel Diagnosehilfen für Ärzte, mit denen man seltene Krankheiten entdecken kann.
Denken wir einen Schritt weiter: Wo sehen Sie Probleme, wenn Algorithmen zum Beispiel bei der Polizeiarbeit eingesetzt werden? Journalisten konnten nachweisen, dass eine Software des US-Justizvollzugs Dunkelhäutige bei der Empfehlung für ihre Bewährungsstrafe benachteiligte.
Bei dieser Software trafen genau zwei der genannten Probleme zusammen: Eine schlechte, vielleicht sogar rassistische Programmierung, die Schwarze überproportional benachteiligte, also eindeutig unfair behandelte. Dazu kam die Abgabe von Autonomie, indem die Bewährungshelfer den Computern die Entscheidung überließen. Menschen haben zwar Schwierigkeiten, statistisch zu denken, daher sind Programme auch hilfreich. Doch gleichzeitig ist unsere Intuition, speziell unsere Menschenkenntnis eine wichtige nicht-sprachliche Informationsquelle. Zumindest in der bisherigen Bauart kann ein Computerprogramm niemals „lernen“, was ein forensischer Psychiater über Jahre erworben hat.
Zum Ende die Frage: Ist das Ziel, alles auf der Welt digital zu erfassen und zu bewerten, überhaupt erstrebenswert?
Je mehr wir über die Welt wissen, desto besser und länger können wir zum Beispiel leben. Durch die moderne Technik hat sich etwa die Lebenserwartung in den vergangenen Jahrhunderten verdoppelt. Natürlich bringt Wissen und Technik Macht mit sich, und Macht wiederum eine große Verantwortung – wie man zum Beispiel am Klimawandel sieht. In jedem Fall müssen Neo-Romantiker keine Angst haben. Für Liebe, spirituelle Gefühle oder den Schauer der Erhabenheit bleibt auch in einem wissenschaftlichen Weltbild genug Freiraum.

Das Interview führte Rebecca Beiter.