Seit einem knappen halben Jahr läuft in München der NSU-Prozess. Der Opfer-Anwalt Jens Rabe zieht ein Zwischenfazit und versucht zu erklären, warum drei Neonazis in Deutschland jahrelang unentdeckt morden konnten.
03.11.2013 - 13:12 Uhr
München – - Wie konnten drei Neonazis jahrelang morden, ohne dass die Polizei auf ihre Spur kam? Der Nebenkläger-Anwalt Rabe meint, dass Ressentiments bei den Beamten dazu beitrugen.
Herr Rabe, seit knapp einem halben Jahr wird im NSU-Prozess verhandelt. Hat die mühselige Suche nach der Wahrheit für Sie etwas Neues erbracht?
Ja, definitiv. Durch die Aussage des Mitangeklagten Carsten S. wurde ein weiterer Anschlag auf eine von einem türkischen Wirt geführte Kneipe in Nürnberg bekannt, der auf das Konto des NSU gehen dürfte. Dieses schon lange zu den Akten gelegte Attentat war von der Polizei nach Aufdeckung des Terrortrios nicht noch mal überprüft worden. Und das, obwohl die Ermittler gebetsmühlenartig beteuert hatten, jede Altakte nochmals umgedreht zu haben. Letztlich kommt es aber auch gar nicht darauf an, ob in diesem Verfahren möglichst viel Neues zu Tage tritt. Entscheidend ist vor allem, dass das, was wir aus den Akten und der Anklage kennen, so vom Gericht bestätigt und am Ende des Prozesses in einem rechtskräftigen Urteil für alle bindend festgestellt wird.
Wie beurteilen Sie den bisherigen Verlauf des Prozesses?
In den Wochen vor dem ersten Verhandlungstag sah es so aus, als ob das Gericht die Organisation des Verfahrens nicht im Griff habe. Die Diskussion um die Größe des Gerichtssaales wollte nicht enden, die Kommunikation des Gerichts war katastrophal, letztlich musste das Bundesverfassungsgericht die Vergabe der Zuschauerplätze beanstanden. Schon nach den ersten Verhandlungstagen war dann aber klar: der Vorsitzende Richter leitet den Prozess sehr professionell und transparent. Die Abläufe um den Prozess herum waren von Anfang an gut organisiert. Es ist bedauerlich, dass das Gericht vor Prozessbeginn auf all die berechtigten Sorgen und Ängste der Nebenkläger und der Öffentlichkeit nicht einging und sie dadurch, wie wir jetzt wissen, unnötig schürte.
Eine wichtige rechtliche Frage ist, ob Beate Zschäpe Mittäterin der Morde war oder nur Beihilfe hierzu geleistet hat. Sie haben vor dem Prozess gesagt, Zschäpe sei ein gleichberechtigtes Mitglied der Terrorgruppe, also Täterin, gewesen. Hat sich das bestätigt?
Für eine solche Feststellung ist es natürlich noch etwas früh, zumal es juristisch immer recht schwierig ist, jemanden der Mittäterschaft zu überführen, der an der eigentlichen Tat vor Ort nicht mitgewirkt hat. Und bislang gibt es bei den meisten Morden keine Anhaltspunkte dafür, dass Beate Zschäpe mit am Tatort war. Entscheidend kommt es deshalb darauf an, wie stark ihr eigener Tatbeitrag dennoch war. Wie bedeutend war ihr Anteil an der Tatvorbereitung, wie sehr war sie in den Tatablauf eingebunden, und wie hoch kann ihr eigenes Interesse an der Tat eingestuft werden? Es zeichnet sich immer deutlicher ab, dass Beate Zschäpe innerhalb des Trios eine starke und wichtige, vielleicht sogar dominante Rolle eingenommen hat. Sehr gut möglich also, dass das Gericht Beate Zschäpe am Ende als Mittäterin verurteilt.
Die Angehörigen der Opfer haben berichtet, wie sie von der Polizei über viele Jahre lang schlecht behandelt wurden und üblen Verdächtigungen ausgesetzt waren. Inzwischen haben viele Polizeibeamte als Zeugen ausgesagt. Wirkten diese Aussagen befriedend?
Dem polizeilichen Ermittler im Mordfall Enver Simsek haben wir in der Hauptverhandlung ganz direkt die Frage gestellt: „Halten Sie an all den im Laufe der Ermittlungen geäußerten Verdächtigungen fest?“ Die Antwort war ein klares: „Nein – diese Spuren waren alle falsch.“ Für Semiya Simsek und ihre Familie war das der bisher bedeutsamste Moment in diesem Prozess; endlich wurde der Vater vor Gericht von den Behörden rehabilitiert, die ihn über Jahre hinweg als Kriminellen dargestellt hatten. Aber leider bekennen sich nicht alle Ermittler so klar zu ihren Fehlern. Ein Münchner Kriminalbeamter äußerte, auf die falschen Verdächtigungen eines anderen Opfers angesprochen: „Jetzt tun wir mal nicht so, als ob es keine Türkenmafia gebe.“ So eine Äußerung schmerzt dann wieder und macht zornig.
Sie haben von „Staatsversagen“ im Zusammenhang mit den Ermittlungen gegen die Mörder gesprochen. Ist es aus Ihrer heutigen Sicht ein Versagen aus Unfähigkeit oder aus Bösartigkeit?
Man kann das nicht verallgemeinern. Zum Teil war es sicherlich mehr als nur Unfähigkeit. Ich habe den Eindruck, manche Ermittler wollten gewisse Dinge nicht sehen. Beispielsweise tauchten bei den Morden an Enver Simsek, Habil Kilic, Ismail Yasar Fahrradfahrer auf, ebenso bei dem Nagelbombenattentat in Köln. Aber die Polizei wollte keine Parallelen sehen und ermittelte, was die Morde anbelangt, nie ernsthaft in Richtung der Radfahrer. Stattdessen wurden die Opfer ins Zentrum der Ermittlungen gestellt. Anhand der Akten ist nachweisbar, dass dabei Vorurteile gegenüber Migranten eine immense Rolle gespielt haben, teilweise finden sich auch krude rassistische Ressentiments. Es gab innerhalb der Behörden aber auch immer wieder Stimmen, die in die richtige Richtung wiesen. Leider fanden sie kaum Gehör.
Hat der Prozess bisher aus Ihrer Sicht Hinweise darauf erbracht, dass hinter dem NSU mehr steckt, als in der Anklageschrift steht?
Die Begriffe „Terrorzelle“ und „Untergrund“, die im Zusammenhang mit dem NSU oft gebraucht werden, legen die Deutung nahe, dass das Trio völlig isoliert und abgeschirmt von seiner Umwelt lebte. Das war mitnichten der Fall. Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe lebten zwar unter falschem Namen, aber ansonsten recht offen über Jahre hinweg in Zwickau in einem Mehrfamilienhaus. Sie hatten Kontakt zur Nachbarschaft, empfingen Besuche, trafen sich mit Gesinnungsgenossen und gingen auf Reisen. So sollen die Terroristen auch in Stuttgart und Ludwigsburg gewesen sein. All das wäre ohne ein Unterstützerumfeld gar nicht möglich gewesen. Es wäre ein Fehler in der Analyse des Komplexes NSU, diese Strukturen und Verstrickungen außer Acht zu lassen.
Wie erlebt Semiya Simsek diesen Prozess?
Semiya Simsek sagte mir im Vorfeld des Prozesses einmal, sie habe das Gefühl, als würde sie den Leidensweg der vergangenen Jahre noch einmal komplett gehen müssen. Als der Verhandlungsbeginn dann im letzten Moment um mehrere Wochen verschoben wurde, litt Semiya Simsek noch mehr unter dieser Situation. Auch heute ist die Tatsache, dass die Geschichte ihrer Familie Teil einer öffentlichen Hauptverhandlung ist, noch immer belastend. Mittlerweile überwiegt jedoch ihre Erleichterung darüber, dass sie sich an der gerichtlichen Aufklärung beteiligen kann. Als Nebenklägerin kann sie im Prozess Anträge stellen und Stellungnahmen abgeben. Diese Möglichkeit nutzt sie ganz gezielt.
Wie wirkt Beate Zschäpe auf sie?
Semiya Simsek störte am ersten Prozesstag sehr, dass Beate Zschäpe so entspannt und fast schon fröhlich wirkte. Sie schäkerte mit Justizbeamten und scherzte mit ihren Verteidigern. Das Bild, das sie mit diesem Verhalten bis heute abgibt, ist nur schwer erträglich. Ein solches Verhalten der Angeklagten muss die Opfer bzw. deren Hinterbliebene verletzen. Dieses Auftreten lässt allerdings nur bedingt Rückschlüsse darauf zu, was hinter diesem Verhalten wirklich steckt: Fehlende Reflexion? Bewusste Provokation? Schlechte Beratung durch die Verteidiger? Im Ergebnis allemal verheerend und inakzeptabel.