Zürich zählt weltweit zu den lebenswertesten Städten. Sieben Jahre lang war Patrick Gmür der Baumeister dieser Stadt, die viele Parallelen zu Stuttgart hat. Er plädiert für eine Verdichtung der Stadt und dem Bau vieler Sozialwohnungen.

Stuttgart - Der Architekt Patrick Gmür (53) und seine Wirkungsstätte Zürich stehen für eine qualitätvolle städtebauliche Entwicklung, die mangels freier Flächen in erster Linie von einer Verdichtung nach innen geprägt ist. Als Vorsitzender des Gestaltungsbeirats wirkt er nun auch in Stuttgart. Er rät, kräftig in den sozialen Wohnungsbau zu investieren und die Verkehrspolitik zu hinterfragen.

 
Herr Gmür, als ehemaliger Stadtbaudirektor von Zürich wissen Sie mit wenig Flächen Wohnraum für viele zu schaffen. Ihr Ziel sind 85 000 Menschen bei 0,5 Prozent verfügbarer Freifläche in 15 Jahren. Wachsen, aber richtig, lautet ihr Credo. Stuttgart hat ja ähnlich schlechte Voraussetzungen.
Das Gute ist: Wir haben eine Fünf-Parteien-Regierung. Da gilt es, nicht den Konflikt zu suchen, sondern einen Konsens. Es gibt ein klares Bekenntnis der Politik zum Wachstum. Wachstum benötigt aber einen Mehrwert für die Bürger, zum Beispiel kurze Wege zur Arbeit, und muss qualitätvoll sein. Weil wir keine freien Flächen haben, müssen wir nach innen verdichten. Alte Gebäude werden abgerissen, es wird dichter oder höher gebaut. Gleichzeitig schaffen wir Freiflächen: fünf Quadratmeter pro Arbeitsplatz und sogar acht pro Einwohner.
Nachverdichtung bedeutet für jene, die schon hier wohnen, eine Beeinträchtigung. In Stuttgart regt sich regelmäßig Protest.
Alle zwei Jahre werden in Zürich die Bürger auch nach der Zufriedenheit mit der Stadtentwicklung gefragt. 80 Prozent sind zufrieden. Das hat auch damit zu tun, dass bei einer Verdichtung stets auch die Infrastruktur wie Schulen oder Kitas mitgebaut wird. Dann ist die Stadt, die traditionell linker und grüner ist als das Umland, auch für junge Familien interessant. Sie legen Wert auf eine gute Infrastruktur, mögen aber keinen überbordenden Verkehr. In Zürich planen wir, den Verkehr einzudämmen.
Etwa durch Fahrverbote?
Nein, es gibt nur keine neuen Parkplätze mehr. Dafür werden die Fußgängerachsen und Fahrradwege ausgebaut. Wir investieren in den nächsten Jahren dafür 120 Millionen Euro – und das, obwohl die Radfahrer bei uns wie in Stuttgart wegen der Topografie ihre Probleme haben.
Die CDU will einen weiteren Straßentunnel in die City bauen, in der es viele günstige Pendlerparkplätze gibt. Ist das zielführend?
Stuttgart muss sich gut überlegen, wie es sich in Zukunft positionieren will. Die Lebensqualität wird im Wettbewerb der Metropolen eine wichtige Rolle spielen. In unseren Umfragen ist der Lärm eines der größten Probleme, ein Viertel der Bevölkerung fühlt sich dadurch gestört. Man hat also politisch etwas in der Hand, um die Lage zu ändern. Wir wollen keine autofreie Stadt, fragen uns aber, ob es ein Grundrecht gibt, mit dem Auto ins Zentrum zu fahren.
Seit 2009 gilt in Stuttgart wieder das Prinzip der Innen- vor Außenentwicklung. In jüngster Zeit werden aber im Gemeinderat wieder Forderungen laut, auch am Stadtrand auf der grünen Wiese zu bauen, und zwar mehrheitlich privates Wohneigentum.
Der Traum vom Einfamilienhaus ist weit verbreitet. Aber gerade aus Gründen der Nachhaltigkeit stellt sich die Frage, ob eine Stadt dieses Bedürfnis noch befriedigen soll. Zürich hat den Vorteil, 2008 beschlossen zu haben, dass wir bis 2050 eine 2000-Watt-Gesellschaft sein wollen. Unwahrscheinlich, dass das Einfamilienhaus mit Garten dafür noch das zeitgemäße Mittel ist. Sogar im Raumplanungsgesetz des Bundes ist festgehalten, dass mit dem Boden haushälterisch umgegangen werden soll.
Ein Problem der Städte ist der steigende Flächenbedarf pro Person. Eine gut geschnittene 80-Quadratmeter-Wohnung wirkt großzügiger als eine schlecht geschnittene größere. Sie selbst haben darauf bei Nachverdichtungsprojekten flexible Lösungen kreiert.
Bei uns nimmt der Quadratmeterbedarf schon seit 2010 wieder ab. Erstaunlich, oder? Der Grund ist, dass wir uns die großen Wohnungen nicht mehr leisten können. Es gibt aber auch Nachhaltigkeitsüberlegungen, kleiner und kompakter zu bauen. Wie beim Handy gilt auch hier: Kleiner heißt nicht schlechter. Wir versuchen etwa bei Baugenossenschaften, Wissen zu vermitteln, wie gute Grundrisse aussehen.
Zürich will 1000 öffentlich geförderte Wohnungen pro Jahr bauen, Stuttgart will sich mit der Hälfte begnügen.
Es ist die große Aufgabe der öffentlichen Hand, selbst Wohnungen zu bauen, um den Preisdruck zu brechen. Wenn etwa die Genossenschaften unterstützt werden, indem sie verbilligte Grundstücke bekommen, können sie Wohnungen so günstig anbieten, dass die Privaten nicht jeden Preis verlangen können. Sie können es zwar versuchen, aber sobald eine Genossenschaftswohnung frei wird, ziehen die Leute um.
In Stuttgart bräuchte es dafür schon einen Sozialwohnungsbauboom.
Das ist der Vorteil der direkten Demokratie: In Zürich haben die Bürger beschlossen, dass bis 2050 ein Drittel aller Wohnungen preisgünstig, das heißt für den unteren Mittelstand bezahlbar sein muss. Die öffentliche Hand muss also in den Wohnungsbau investieren. Städte wie Zürich, München, Stuttgart oder Wien stehen in Konkurrenz. Entscheidend wird künftig sein, ob die Städte bezahlbar sind.
Wien gilt ja europaweit beim sozialen Wohnungsbau als Vorbild . . . 
Weil es bezahlbare Wohnungen gibt. Das Gegenteil ist London. Wer dort Abfalleimer leert, muss morgens vier Stunden anreisen, weil er mit seinem Lohn im dritten oder vierten Agglomerationsgürtel wohnt.
Schöne Aussichten. Auch Stuttgart ist für mittlere Einkommensbezieher zu teuer, weil es zu wenig Wohnungen gibt.
In den sieben Jahren als Stadtbaudirektor in Zürich wurde ich ein besserer Demokrat. Ich bin überzeugt davon, dass die Stadt Funktionen übernehmen muss, die der freie Markt nicht bietet.
Gemeinderat und die Verwaltung vermitteln nicht den Eindruck, dass für jeden eine Wohnung angeboten werden müsse. Es gilt: Wir regeln selbst, wie stark wir wachsen wollen.
Diese Tendenzen gibt es bei uns auch. Aber eine Stadt muss eine für alle sein. Andernfalls grenzen wir Menschen aus. Ich bezweifle, dass es richtig ist, keine Alten mehr zu wollen, keine Ausländer oder keine Asylanten. Ich habe gelernt, dass eine Stadt attraktiv ist, wenn sie vielfältig ist. Und je vielfältiger, umso attraktiver.
Aber Stuttgart will nicht einsehen, dass nur sie geförderten Wohnraum finanziert, während sich in der Region die Gutsituierten ihren Traum vom Wohneigentum erfüllen.
Auch hier haben wir vergleichbare Fragestellungen. Ich bin überzeugt, dass man gemeinsam planen muss. Übrigens haben diese Einfamilienhaus-Speckgürtel auch ihre Probleme. Meine Erkenntnis ist: Die Stadtplanung muss nicht für reiche Leute sorgen. Diese kommen gut alleine zurecht. Vielmehr ist es ihre Aufgabe zu schauen, dass uns in den Städten der Mittelstand nicht wegbricht. Damit meine ich die Lehrer, Erzieher oder Krankenpfleger.