Kanzler Scholz im Bundestag Eine Zeitenwende für Deutschland
Bundeskanzler Olaf Scholz gibt seiner Regierung einen langfristigen Auftrag: Die Bundeswehr soll endlich schlagkräftig werden und das Land unabhängig von fremder Energie.
Bundeskanzler Olaf Scholz gibt seiner Regierung einen langfristigen Auftrag: Die Bundeswehr soll endlich schlagkräftig werden und das Land unabhängig von fremder Energie.
Berlin - Plötzlich ist alles anders. Regierungserklärungen im Bundestag sind eigentlich parlamentarische Routine. Auftakt zu einer Aussprache, in der politische Gegensätze zwischen Opposition und Regierung aufeinanderprallen. Parlamentarischer Alltag. Überraschungen sind in den mitunter ritualhaften Wortgefechten eher selten. An diesem Sonntag aber gibt es keine Rituale, keine Schablonen, keine Vorbilder. Der Krieg in Europa, Putins Überfall und der Kampf des ukrainischen Volkes um seine Zukunft in Freiheit haben alles verändert.
Zur Sondersitzung sind die Reihen der Abgeordneten dicht besetzt. Auf der Besuchertribüne verfolgt der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk die Sitzung. Mit Ovationen des gesamten Hauses im Stehen wird er begrüßt. Altbundespräsident Joachim Gauck ist auch gekommen. Er umarmt den Botschafter in einer rührend hilflosen Geste der Solidarität.
Hilflos hatte sich wohl auch die deutsche Politik zunächst gefühlt, als alle diplomatischen Bemühungen um Frieden an Putins Kriegslust abprallten. Und erst recht, als dann aus dem ohnehin brüchigen Frieden die nackte Gewalt wurde. Deutschland wirkte als schockstarrer Zuschauer einer heillos eskalierenden Situation. Wenn die sonntägliche Bundestagssitzung eines gezeigt hat, dann dies: Die Bundesregierung ist aus der Schockstarre aufgewacht.
Als Botschafter Melnyk auf der Besuchertribüne Platz nimmt, weiß er bereits, dass Deutschland nun in nennenswertem Umfang Waffen an sein Land liefern wird, dass Berlin nun auch Sanktionen mitträgt, die das Finanztransfersystem Swift einschließen. Bundeskanzler Olaf Scholz referiert die im Laufe des Samstags bereits bekannt gewordenen Maßnahmen. Aber das ist nicht der eigentliche Gegenstand seiner Regierungserklärung. Er zielt höher. Er ordnet die Entscheidungen in einen geistigen Überbau ein, er will tatsächlich glasklar machen, was die Stunde geschlagen hat. „Wir erleben eine Zeitenwende in der Geschichte des Kontinents“, sagt er. Er spricht von einer „Zäsur in der deutschen Außenpolitik“. Jetzt sei das Klein-Klein vorbei, jetzt gehe es im Kern darum: „Ob Macht das Recht brechen darf oder ob wir die Kraft aufbringen, Kriegstreibern wie Putin Grenzen zu setzen.“
Dann sagt Scholz den Satz, der seiner gesamten Regierungszeit Auftrag, Thema und Richtung geben wird: „Das setzt eigene Stärke voraus.“ Da gibt es Geraune im Saal. Zu offenkundig ist Deutschlands militärische Schwäche. Zu oft sind im Parlament große Worte mit kleinen Taten für die Bundeswehr verbunden worden. Aber Scholz meint die „Zeitenwende“ ganz ernst. Das ist die eigentliche Überraschung der Rede: Der Bundeskanzler kündigt nicht nur ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für Rüstungsinvestitionen an. Zudem sollen nun jedes Jahr „mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in die Verteidigung investiert werden“. Berlin werde sich auch mit Luftabwehrraketen an der Verteidigung des Luftraums der osteuropäischen Nato-Partner beteiligen. Zwar gelte weiter der Grundsatz „So viel Diplomatie wie möglich“, aber „ohne naiv zu sein“.
Ein Deutschland, das Waffen in das Kriegsgebiet Ukraine liefert, damit ein bedrohtes Volk seine Freiheit aktiv verteidigen kann, das die Bundeswehr grundsanieren will, das sich zudem energiepolitisch ganz unabhängig machen will – das ist so grundstürzend, dass die Opposition darauf unmöglich kleinteilig mäkeln kann. Unionsfraktionschef Friedrich Merz dankt „im Namen der Union für die Regierungserklärung“. Er bietet „umfassende Hilfe und Unterstützung“ an. Er merkt immerhin an, dass die 100 Milliarden Euro de facto „neue Schulden“ sind. Finanzminister Christian Lindner (FDP) nennt sie später lieber „Investitionen in unsere Freiheit“. Und er beruhigt: „Die Schuldenbremse gilt.“
Eine Zeitenwende. Ein Tag, an dem alte Grundsätze korrigiert werden. Nicht nur in der Regierung. Die Linke-Fraktionschefin Amira Mohamed Ali gibt offen zu: „Wir haben die Absichten der russischen Regierung falsch eingeschätzt.“ Der russische Angriff sei „durch nichts zu relativieren oder zu rechtfertigen“. Sanktionen werden nun weitgehend mitgetragen. Aber Waffen in Kriegsgebiete – da wird die Linke nicht mitmachen. Auch Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD), der den notorischen Russland-Verstehern in den Reihen der SPD zugerechnet wird, sagt offen, dass er sich die aktuellen Ereignisse „noch vor wenigen Wochen nicht hätte vorstellen können“.
So geht es vielen. Kaum jemanden merkt man in diesen Tagen so sehr an, wie er mit sich ringt, wie Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne). Er achte pazifistische Positionen, sagt er und meint es nicht rhetorisch. „Aber wer bei einer militärischen Vergewaltigung zuschaut, der macht sich schuldig.“ Und dann trifft er eine feine und sehr kluge Unterscheidung: „Ich denke, wir haben eine richtige Entscheidung getroffen“, sagt er. „Ob sie gut ist, weiß keiner.“ Aber „wenn Wachsamkeit der Preis der Freiheit ist, wollen wir nicht wieder schläfrig sein“.
Das trifft das im Parlament bei allen Fraktionen verbreitete Gefühl. Nur die AfD findet noch immer viel Verständnis für Russland. Der Westen habe „überheblich Russland den Großmachtanspruch abgesprochen“, sagt etwa Alice Weidel, die Fraktionschefin. Ihre Partei war isoliert.
Die Bundesregierung hat sich aber nun selbst den Auftrag gegeben. Er ist so umfassend, dass er die gesamte Wahlperiode der nächsten vier Jahre leiten wird.