Steht an diesem Mittwoch die Regierung? Seit fast fünf Wochen verhandeln die Spitzenleute von Union und SPD über das Programm. Allmählich geraten die Sozialdemokraten unter Zeitdruck.

Politik/Baden-Württemberg : Bärbel Krauß (luß)

Berlin - Das Adenauerhaus wird belagert. Dort werden an diesem Montag die Weichen für eine große Koalition gestellt. Seit fast fünf Wochen verhandeln die Spitzenleute von Union und SPD schon darüber. Seit zwei Monaten sollte ihnen klar sein, dass es kaum eine realistische Alternative dazu gibt. So lange liegt die Wahl schon zurück. Vor dem Adenauerhaus, dem Hauptquartier der CDU, haben sich Demonstranten versammelt. „Unsere Geduld hat eine Grenze“, ist auf einem ihrer Transparente zu lesen. Doch es sind keine Bürger, die sich von der Dauer der Verhandlungen genervt fühlen; keine Wähler, die mit Nachdruck bekunden wollen, dass jetzt endlich wieder ordentlich regiert werden sollte. Unter dem Satz mit der Geduld steht eine zweite Zeile. Dort ist zu lesen: „8,50 Euro pro Stunde“. Es geht um den Mindestlohn. Das Transparent hat die Gewerkschaftsjugend mitgebracht.

 

CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt erweckt den Eindruck, als wolle er die Geduld des Publikums noch ein bisschen strapazieren. Eigentlich wollten er und die anderen Unterhändler sich bis Mittwoch einigen. Zu Beginn der finalen Woche sagt Dobrindt aber: „Wir sind mitten in der zweiten Halbzeit, vielleicht müssen wir sogar in die Verlängerung.“ Jetzt zähle Sorgfalt mehr als die Zeit. Wie lange das Gefeilsche um das neue Regierungsprogramm noch dauern werde, hänge davon ab, ob man sich in kniffligen Fragen verständigen könnte, fügt Dobrindt hinzu. Es gehe jetzt nicht vorrangig darum, „ob jemand Post verschicken will“.

Das Spiel auf Zeit ist ein taktischer Winkelzug

Diese Bemerkung ist als Ohrfeige für die SPD zu verstehen. Die steht nämlich wirklich unter Zeitdruck. Wenn der Fahrplan für ihren Mitgliederentscheid nicht durcheinandergeraten soll, muss sie die geplante Sondernummer der Parteizeitung „Vorwärts“ mit dem fertigen Koalitionsvertrag spätestens am Freitag verschicken. Dobrindt bekam postwendend Antwort von seiner sozialdemokratischen Kollegin Andrea Nahles. Es werde keine Verlängerung geben, versicherte sie. Dafür gebe es „nach hinten hinaus keinen Spielraum“.

Das Spiel auf Zeit ist einer der taktischen Winkelzüge in der heißen Phase der Verhandlungen. „Es gibt auf beiden Seiten das Bestreben, sich jetzt noch einmal richtig hart zeigen zu wollen“, sagt ein CDU-Stratege. „Jeder will demonstrieren, wie entschlossen und entschieden er verhandelt.“ Auf Seiten der SPD wird beobachtet: „Die versuchen zu mauern und auszuloten, was noch möglich ist.“ Die Union hat sich aber auf eine harte Linie verständigt: „Wir lassen uns nicht hetzen. Wenn es länger dauern sollte, dann dauert es eben länger.“

In den nächsten Tagen werde im Prinzip durchverhandelt, heißt es bei der SPD. Im Willy-Brandt-Haus ist man immer noch zuversichtlich und vorsichtig zugleich. Ja, man erwarte, dass die Koalitionsverhandlungen erfolgreich zum Abschluss gebracht werden können; nein, ein Scheitern sei weiterhin nicht ausgeschlossen, so ist dort zu hören. Zwar haben die Sozialdemokraten den Parteitag der CSU in München und die ersten Besuche des SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel und der Generalsekretärin Nahles an der Basis vom Wochenende als insgesamt ermutigend eingestuft. „Aber jetzt geht es um die Wurst“, sagt Parteisprecher Tobias Dünow. „Natürlich wächst da die Nervosität.“ Die Genossen wollen auf jeden Fall zügig zum Ende kommen.

Die SPD musste einige Kröten schlucken

Richtig optimistisch klingen freilich nicht alle roten Unterhändler. Hubertus Heil, ehemaliger Generalsekretär der SPD, der jetzt für seine Partei die großkoalitionäre Arbeitsgruppe Wirtschaft leitet, die unter anderem die Aufgabe hat, einen Kompromiss beim brisanten Thema Mindestlohn vorzubereiten, bekundet: „Wir wollen zum Erfolg kommen.“ Er fügt aber skeptisch hinzu: „Ob wir das schaffen, steht noch aus.“ Ähnlich verhalten hört sich SPD-Schatzmeisterin Barbara Hendricks an, die in dem engen Kreis mit dabeisitzt, der im fünften Stock des Adenauerhauses die letzten Weichen stellt. Es sei „noch nicht abschließend entschieden, ob wir überhaupt den Vertrag unseren Mitgliedern zur Abstimmung vorlegen können“.

Zuversichtlicher äußert sich Thomas Oppermann, Geschäftsführer der SPD-Fraktion, der als Ministerkandidat gehandelt wird. „In weniger als 48 Stunden sind die Verhandlungen beendet“, sagt er am Montag um die Mittagszeit. „Und ich glaube, sie werden erfolgreich beendet.“ Sein Genosse Martin Schulz, der Präsident des Europäischen Parlaments, übt sich ebenfalls in Optimismus. Die Sozialdemokraten hätten „einige Kröten schlucken müssen“, gibt er zu Protokoll, zieht aber dann schon mal eine insgesamt positive Bilanz: „Dafür bekommen wir den einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland, eine bessere Finanzmarktregulierung, mehr Geld für Bildung, die doppelte Staatsbürgerschaft.“ Schulz ist damit noch nicht am Ende seiner Argumente für eine große Koalition: „Wir setzen auch auf anderen Gebieten SPD-Positionen durch.“ Schulz bekräftigt: „Das kann sich sehen lassen.“

CSU-Chef Horst Seehofer hätte hinter viele der von Schulz aufgezählten Pluspunkte noch Fragezeichen setzen können. Doch er gibt sich ganz entspannt. Er sei wegen der großen Koalition und der vielen offen Fragen „nicht besorgt“, sagt er, bevor er das Adenauerhaus betritt. Nicht einmal die Unwägbarkeiten des SPD-Mitgliederentscheids bereiteten ihm Kopfzerbrechen, versichert der bayerische Ministerpräsident. Und von den Versuchen der SPD, in letzter Minute den Preis für eine große Koalition hochzutreiben, will er sich auch nicht irritieren lassen. Neuerliche Forderungen nach Steuererhöhungen wischt er vom Tisch und wendet sich dem letzten Stück Weg zur finalen Verhandlungsrunde zu. Im Gehen sagt er noch: „Wir reden jetzt unter vernünftigen Leuten.“

Sein Generalsekretär Dobrindt wird deutlicher: „Neue Steuern wird’s nicht geben, neue Schulden auch nicht“, betont er. Dieses Mantra wiederholt Dobrindt seit Wochen. Es gebe einen „festen Willen“, gemeinsam eine Koalition zu bilden, glaubt er. Er schickt dieser Einschätzung freilich noch einen Nachsatz hinterher: „Aber wir machen das nicht um jeden Preis.“