Unser Autor hadert immer wieder mit der intensiven Handynutzung seiner Tochter. Als ihr Gerät kaputt geht, stellt er fest, dass sein eigenes Leben auch eng mit dem Smartphone verknüpft ist. Und die Tochter reagiert erstaunlich erwachsen.

Lokales: Alexander Ikrat (aik)

Die Stille schreit es förmlich heraus: Es ist etwas FOLGENSCHWERES passiert! Eben noch hat ein nicht ganz leichter Gegenstand einen dumpfen Schlag auf dem hölzernen Boden des Hotelzimmers verursacht, drüben in der Ecke, wo meine Tochter auf dem Bettrand sitzt. Es klingt immer so, wenn ihr Handy auf den Boden fällt. Was bedeutet, dass es nicht das erste Mal passiert ist. Davon zeugt die komplexe Spider-App, die sie auf ihrem Display installiert hat.

 

Spider-App nannte man in der Steinzeit der Handy-Evolution, wenn ein Display gesprungen war. Das Display meiner Tochter war schon von mehreren Ecken aus gesprungen. Kein Wunder, sie ist das, was man heutzutage eine Power-Userin nennt. Also jemand, der sein Gerät so intensiv nutzt, dass er – oder besser: sie – seine Schwächen herausfindet. Das Display gehört wohl bei jedem Hersteller dazu.

Paris tröstet über die Katastrophe hinweg

Was mich aufmerksam hätte machen müssen, war, dass dieses Mal kein „Bruder, Glück gehabt!“ oder „Alter, es geht!“ erschallte. Sondern: Stille. Erst nach einigen langen Sekunden der leise Satz: „Mein Handy geht nicht mehr an.“ Der Schreck sitzt ihr offensichtlich tief in den Gliedern. Allerdings: Sie sitzt auch in einem Hotelzimmer in Paris, der Stadt, von der sie schon seit Jahren träumte, endlich mal hinzugehen. „Da musste ich mich doch zusammenreißen“, hörte ich sie später zu ihrer Freundin sagen. „Bruder!“, dachte ich schon im Hotelzimmer voller Stolz, „ganz schön abgeklärt für ihr Alter!“

Natürlich haben wir uns auch mit dem Handy beschäftigt, um es möglicherweise doch wieder starten zu können, aber mein Teenie schlug sich wacker. Beim folgenden Abendessen auf dem Montmartre verlor sie kein Wort über das Herzensgerät und auch am nächsten Tag unter anderem auf dem Eiffelturm oder im Louvre beschäftigte sie sich intensiv mit ihrer Umgebung. Fotografieren geht schließlich auch mit Mamas oder Papas Smartphone. Dumm nur, dass man denen nichts spontan an die Freundinnen verschicken kann, weil es am Kontakt fehlt oder am richtigen Social-Media-Kanal.

Bei Mona Lisa ist es in der ersten Reihe fast wie bei Taylor Swift

Im Laufe des Tages hat sie eine Menge Fotos mit meinem Exemplar gemacht, deshalb bin ich jetzt stolzer Besitzer ihrer Selfies mit der Mona Lisa. Sie brauchen jetzt nicht die Nase zu rümpfen. Im entsprechenden Raum im ersten Stock des Denon-Flügels im meist besuchten Museum der Welt herrschte eine Klangkulisse ähnlich einer Eröffnungsgala etwa der Berlinale, und der Andrang vor dem berühmtesten Gemälde überhaupt war zwar nicht ganz so heftig wie in der ersten Reihe eines Taylor-Swift-Konzerts, aber ganz weit weg davon vermutlich auch nicht. Es ist einfach so: Jugendliche müssen heutzutage für ihre Freunde und Artverwandten dokumentieren, wo sie sich so herumtreiben. Die Mona Lisa lächelte mit gaaanz sachtem Spott darüber.

Ihre besten Freundinnen machten sich ernsthafte Sorgen um sie, nachdem sie einen ganzen Tag (!!!) nicht mehr auf Snapchat geantwortet hatte. Es musste was Schlimmes passiert sein, sonst hätte sie die 286 Flammen-Symbole für 286 Tage Snapchat am Stück nicht einfach erlöschen lassen. Ihrer Austauschpartnerin in London, mit der sie in regem Kontakt stand, müsste sie auch dringend schreiben, will sie nicht die zarte Bande noch vor der Reise auf die Insel in ein paar Wochen kappen. Doch alle Informationen über das Mädchen inklusive Handynummer und E-Mail-Adresse finden sich auf besagtem Handy. Von Tag zu Tag wird klarer, dass die meisten relevanten Lebensbereiche mit dem Gerät verknüpft sind, und der Vater empfindet tiefes Mitgefühl, weil es bei ihm ehrlich gesagt auch nicht mehr so ganz anders ist.

Zurück zu Hause ist allen Familienmitgliedern klar, dass etwas geschehen muss. Mit vereinten Kräften macht man sich an die Lösung. Die Tochter fragt ihre Freundinnen per Festnetz (wie geht das noch mal?) nach ihren Handynummern, Mutter googelt nach einem gebrauchten Handy (mindestens ein halbes Jahr kein Taschengeld!), der Vater findet in seinem Fundus die E-Mail-Adresse der englischen Mutter. Aber mit seinem Handy und seinem Snapchat-Account (einst wegen einer einzigen Angelegenheit eingerichtet, seitdem vergessen) mit den anderen snappen – das kommt nicht infrage. Er könnte ja die Chats nachlesen, auch wenn er etwas anderes verspricht. Das wäre noch viel schlimmer als Flammen verlieren.

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Unser Autor Alexander Ikrat hat auf (fast) alle Herausforderungen in der Zeitungsproduktion eine Antwort. In der Beziehung zu seinen beiden Töchtern ist er allerdings nicht mehr gefragt – dank der Pubertät.