Heute zanken sie sich, morgen sind sie ein Herz und eine Seele. Die Beziehung von Geschwistern ist nicht immer einfach. Doch unvorstellbar, wenn es nur noch Einzelkinder gäbe.

Stadtleben/Stadtkultur/Fildern : Andrea Kachelrieß (ak)

Fast hundert Tage dauert der Krieg in der Ukraine nun schon. In der Zeitung ist er an manchen Tagen nur noch eine Randnotiz, am Familientisch beschäftigt er die Gemüter nach wie vor sehr intensiv. Wie wäre es, wenn der Bruder, der Vater eingezogen werden würden?

 

Diese Frage hat unsere Kinder jüngst bewegt, als wir mit der Zahl bislang gefallener russischer Soldaten konfrontiert waren: Mehr als 30 000, das bedeutet, dass in ebenso vielen Familien um Söhne, Väter, Brüder, Männer getrauert wird. Für uns unvorstellbar, Freizeitvergnügen wie Reisen sind neben dem Leben selbst das höchste Risiko, das wir eingehen. Was bisher Normalität war, erscheint nun als Luxus.

Was schert der Seelenkram von Müttern?

Ob es in Russland und der Ukraine eine Regelung gibt wie die „Sole Survivor Policy“ in den USA, die den letzten Überlebenden einer Familie aus dem Kriegsdienst in einer Kampfzone abzieht? Dann hätte mein Sohn, dem die Film-Geschichte vom „Soldat James Ryan“ einfiel, den perfekten Friedenstipp für Familien: Wenn es nur noch Einzelkinder und am besten nur noch Einzelmädchen geben würde, könnte man keine Söhne mehr einziehen. Aber ich vermute, dass sich ein totalitäres Regime und sein geschwisterlos aufgewachsener Präsident um den Seelenkram verwaister Mütter wenig scheren, was ja auch die Zahl von rund 4000 getöteten Zivilisten in der Ukraine anschaulich macht, darunter 260 Kinder.

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Auch wenn sich meine Kinder bis gefühlt vorgestern um jedes Ding gezankt hatten, das in ihr Blickfeld kam, sind sie als junge Erwachsene ein Herz und eine Seele. Gut, dass wir keine „Sole Survivor Policy“ in unserer Familienplanung bedenken mussten, denn Geschwisterliebe ist etwas Schönes, beruhigend und friedensstiftend im Kleinen. So zumindest die Theorie, in der Praxis sind Streit um Erbschaften und Banaleres leider nicht unüblich. Doch die Hoffnung stirbt zuletzt; auch in Deutschland scheint man sich da einig zu sein, die Mehrzahl der Kinder hier wächst mit Geschwistern auf.

Es gibt einen Welttag der Geschwister

Im vergangenen Jahr lebten laut Statistischem Bundesamt, das anlässlich des Welttags der Geschwister am 10. April nachgezählt hatte, von den insgesamt 13,6 Millionen Kindern unter 18 Jahren in deutschen Haushalten 10,3 Millionen Kinder mit Geschwistern zusammen. Das heißt, dass drei Viertel der Kinder mit mindestens einem Bruder oder einer Schwester aufwachsen. Damit haben sie jemanden zur Seite, der ihnen nach einem Sturz aufhilft – aber erst, wenn er oder sie fertig ist mit lachen.

Andrea Kachelrieß hat zwei Kinder, und das seit einigen Jahren. Gefühlt bleibt sie in Erziehungsfragen aber Anfängerin: Jeder Tag bringt neue Überraschungen. Im Kulturressort betreut sie unter anderem die Kinderliteratur.