Die sechsjährige Tochter unseres Autors kam mit einem seltenen Gendefekt zur Welt. Ein fehlendes Protein hat ihr die Sprache geraubt. Eines der wenigen Wörter, das sie noch sprechen kann, ist ihr Synonym für Abenteuer.

Unsere Tochter ist eine ausgezeichnete Autofahrerin. Aus klimapolitischer Sicht ist diese Aussage wahrscheinlich problematisch. Für uns als Familie ist ihre Fahrtüchtigkeit – wenn man das in diesem Kontext so nennen darf – aber aus vielen Dingen wichtig. Zum einen für die Selbstermächtigung unserer Tochter. Sie ist sechs Jahre alt, kann aber keine zwölf Wörter mehr sprechen, seit ein Gendefekt ihr vor bald drei Jahren die Sprache genommen hat.

 

Ein Protein, verantwortlich für die übergeordnete Regulation anderer Gene, ist wegen eines seltenen Gendefekts gestört. Die Feinmotorik und vor allem das Sprachenzentrum sind bei uns am stärksten betroffen. Das Wort „Auto“ geht als eines der letzten über die Lippen des kleinen Menschleins. „Auto“ heißt bei ihr „nichts wie weg“, wenn sie sich irgendwo nicht wohlfühlt.

Auto gut, Ampel schlecht

„Auto“ bedeutet, „wann gehen wir endlich wie versprochen einkaufen?“ „Auto“, ausgesprochen mit weichem t, ist die Aufforderung, doch endlich loszufahren, zur Logopädin, zum therapeutischen Reiten, zur Physiotherapie, überall dorthin, wo mehr los ist als bei den etwas langweiligen Eltern.

Sitzen wir also endlich im Auto, verfolgt unsere Tochter die Fahrt mit sehr lebensbejahender Konzentration. Nur eine Sache stört sie: Ampeln oder das für sie aus unerklärlichen Gründen Verharren an einer unattraktiven Stelle. Dabei kann ich sie sehr gut verstehen. Ampeln sind immer dann Rot, wenn sie Grün sein sollten, stehen im Weg, wenn es gerade gut läuft, schalten auf Rot, wenn sie in meinen Augen ganz sicher Grün meinen wollten.

Für den Moment habe aufgegeben, meiner Tochter das Konzept von Rot oder Grün erklären zu wollen. Sie wird laut, wenn ich an der Ampel zu lange stehe, wahrscheinlich weil sie Rennfahrerin werden möchte oder weil sie im Mutterleib das Intro des Albums The Carinval von Wyclef Jean gehört hat, auf dem der Musiker Großes ankündigt, in dem er erklärt: „We are not stopping for no red lights tonight“.

Auch bei uns kündigt sich etwas Großes an: die Schule, eine in unserer Welt doppelt spannende Einrichtung. Einerseits braucht das kleine Geschöpf immer noch rund um die Uhr unsere Hilfe und Betreuung, als Sprecher und feinmotorische Umsetzer so lästiger Dinge wie Anziehen. Andererseits bearbeitet sie den Talker, ein gepimptes iPad mit der Symbolsprache Metacom mit einer immer schneller werdenden Selbstverständlichkeit, bei der ihr immer langsamer werdender Vater kaum mehr mitkommt.

Auf dem Weg zur Schule

Dieses Wunderwerk der Technik, das vom Gendefekt unserer Tochter stärker betroffene Kinder mit ihren Augen steuern können, wird das Mädchen bald durch ihren Schulalltag manövrieren und sie unserem Traum näherbringen: Dass sie lesen und schreiben lernt wie andere Kinder. Deshalb habe ich mich an dieser Stelle dazu entschlossen, mit dem Schreiben dieser Kolumne aufzuhören, um mich noch besser darauf konzentrieren zu können, meine Beifahrerin auf ihrem Weg zu begleiten. Danke fürs Mitfiebern bis hierhin.

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Unser Autor ist Redakteur der Stuttgarter Zeitung und Nachrichten. Er hat zwei Kinder – seine Tochter kam mit einem seltenen Gendefekt zur Welt.