Natalie Kanter wohnt in Stuttgart – aber ihre Heimat liegt in den bayerischen Alpen. Da wo die Brezel Brezn heißt und man auf die Wanderung kein Vesper mitnimmt, sondern eine Brotzeit.

Wo komme ich her? Wo liegen meine Wurzeln? Mit diesen Fragen beschäftigen sich Elfjährige für gewöhnlich nicht. Sie blicken nach vorne und nicht zurück. „Stuttgart ist meine Heimat“, sagt meine Tochter geradeheraus, ohne zu zögern. „Weil ich dort lebe, weil dort mein Zuhause ist – weil ihr dort lebt“, erklärt sie. Und meint damit meinen Mann und mich. In Stuttgart wohnen auch ihre Freunde. Dort geht sie zur Schule. Deshalb fühlt sie sich hier wohl und geborgen.

 

Auch ich lebe gerne in Stuttgart. Ich mag den Charme unseres Quartiers, drehe morgens gerne meine Runden im nah gelegenen Wald und genieße die Ruhe in unserem Schrebergarten. Als meine Heimat kann ich Stuttgart dennoch nicht bezeichnen. Obwohl diese Stadt der Ort ist, wo ich wohne, wo ich arbeite, wo mein Kind vor fast zwölf Jahren auf die Welt gekommen ist. Mit dem Begriff Heimat verknüpfe ich den Ort meiner Kindheit. Jenen Flecken Erde zu dem ich in meiner Freizeit – gemeinsam mit der Tochter – immer wieder gerne aufbreche. Weil dort meine Mutter und ihre Oma lebt, und ein Großteil meiner Familie zuhause ist.

Dass dieser Ort in Bayern, mitten im Gebirge liegt, hat damit vielleicht auch etwas zu tun. Die Sehnsucht nach der so einzigartigen Landschaft trage ich stets in mir. Wenn auf der Fahrt dorthin die Berge am Horizont auftauchen, hüpft mein Herz vor Freude. In diesem Moment ist es nebensächlich, dass es das Zuhause von einst gar nicht mehr gibt. Dass in dem Haus, in dem ich meine Kindheit verbracht habe, längst eine andere Familie lebt.

Wir besuchen regelmäßig einen Platz, an dem ich vermeintlich alles kenne. Die Brezel heißt dort noch immer Brezn, das Brötchen Semmel, das Vesper Brotzeit – und das Brot, das es dort zu kaufen gibt, habe ich bisher in ganz Stuttgart noch nicht gefunden. Und doch hat sich sooooo viel verändert. Aus dem beschaulichen Ort ist fast eine Stadt geworden, in der zu viele Menschen Urlaub machen. Das gilt nicht nur für den Sommer, sondern vor allem auch für den Winter. Wer zur Urlaubszeit Ruhe an einem See oder auf einem Gipfel sucht, muss früh aufstehen. Oder aber Geheimtipps und verwunschene Pfade kennen, die noch nicht auf Instagram gepostet wurden. Der viele Schnee, den die Schneeräumer im Februar vor 40 Jahren noch zu hohen Bergen am Straßenrand aufgetürmt haben, bleibt immer öfter aus. Die Skipässe werden immer teurer, der Sport ist zum Luxusgut geworden.

Dennoch fahre ich immer wieder gerne in meine alte Heimat – sommers wie winters. Meine Tochter fährt noch immer gerne mit. Ihre Heimat aber wird stets Stuttgart bleiben. Weil sie dort geboren ist und sich dort seit fast zwölf Jahren wohl fühlt. Sie ist halb Schwäbin und halb Bayerin. Offen ist, wohin es sie einmal verschlagen wird. Welche Stadt oder welcher Ort wird einmal die Heimat ihrer Kinder sein? Pläne für ihre Zukunft hat sie viele. Wir dürfen gespannt sein.

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Natalie Kanter (48 Jahre) ist Redakteurin dieser Zeitung und Mutter eines Mädchen, das mittlerweile fast so groß ist wie sie selbst und es dennoch immer wieder schafft, den Alltag ihrer Eltern grundlegend auf den Kopf zu stellen.