Die Basis der SPD entscheidet, ob in Berlin regiert wird. Das heißt, jedes Parteimitglied aus Hintertupfingen befindet, wie es in Berlin, in Brüssel, ja in der Welt weitergehen soll. Das geht gar nicht, meint unsere Kolumnistin Sibylle Krause-Burger.

Stuttgart - Denke ich an diese Menschen in der Nacht, dann bin ich um meinen Schlaf gebracht. Ich fürchte mich. Der Magen zieht sich mir zusammen. Meine Knie zittern. Dabei sind es keine berühmt-berüchtigten Leute. Ihr Name ist nicht von Bedeutung. Es sind Delegierte auf dem SPD-Parteitag am kommenden Sonntag, und sie entscheiden darüber, ob nach den Sondierungen zwischen SPD, CDU und CSU Koalitionsverhandlungen aufgenommen werden, also ob Deutschland endlich eine stabile Regierung erwarten darf. Diese paar Hundert Leute haben Macht. Nur, kommt sie ihnen auch zu?

 

Doch das ist längst nicht alles. Nach dem Parteitag, sofern der den Daumen nicht senkt, und nach den Koalitionsverhandlungen, die daraufhin eventuell stattfinden, werden noch die Mitglieder der alten Tante SPD gebeten, dem Ergebnis dieses anstrengenden Ringens ihren Segen zu geben. Das heißt, jeder Genosse aus Hintertupfingen oder Pinne an der Knatte befindet, wie es in Berlin, in Brüssel, ja in der Welt weitergehen soll. Da bleibt einem doch die Spucke weg. So etwas Aberwitziges können sich nur Parteien ausdenken, die nicht mit dem Gemeinwesen, sondern ausschließlich mit sich selbst beschäftigt sind.

Die SPD ziert sich wie eine alte Junger

Die SPD ziert sich hier vor der Groko wie eine alte Jungfer vor der ersten Betterfahrung. Ein paar Parteifreunde, wie etwa der Juso-Chef, empören sich mit Lust und nutzen die Situation, damit man sie endlich wahrnimmt. Malu Dreyer präsentiert Nachforderungen, um ihre frühere Neigung für eine Minderheitsregierung glaubwürdiger erscheinen zu lassen. Und der linke Ralf Stegner ist sowieso immer dagegen.

Das alles gehört in den großen Formenkreis der direkten Demokratie, die heutzutage sehr populär ist. Von Willy Brandt, der mehr Demokratie wagen wollte, wurde das angezündet, von den Grünen zur Flamme erhoben. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes aber haben solche Sitten bewusst ausgeschlossen. Man hatte doch gesehen, wohin Gefühlspolitik führt, die mit direkten Wahlgängen allemal verbunden ist. Ein Filter der Repräsentation sollte vorgeschaltet werden, ein Filter von Volksvertretern, die nicht nur für ihre Partei, sondern auch für das Allgemeine zuständig sind. Deshalb heißt es in unserer Verfassung, die Abgeordneten seien nur ihrem Gewissen verantwortlich und an keinerlei Weisungen gebunden. Das direkte Mandat und Volksabstimmungen, also der unvermittelte Weg von den Wählenden zu den Ausführenden ist deshalb im Grundgesetz nicht vorgesehen – es sei denn, es gehe um die Neuordnung der Bundesländer.

Das Volk ist der Souverän – nicht ein SPD-Parteitag

Aber was anderes als eine Art direktes Mandat ist diese Praxis, sich bei Parteitagen oder gar den Mitgliedern abzusichern? Sie lähmt die Politik und öffnet Emotionen Tür und Tor. Alle Gewalt geht vom Volke aus, heißt es im Grundgesetz. Das Volk ist der Souverän, und in seiner Vertretung der Bundestag, nicht ein SPD-Parteitag. Politiker sollen sich nicht feige rückversichern, sondern führen. Dafür sind sie gewählt.

Wer aber außer Sozialdemokraten hat die Delegierten des Parteitags gewählt? Wem sind diese Basis-Leute verantwortlich? Welche Konsequenzen gibt es für die Genossen, die eine falsche Entscheidung treffen? Die unsere Bundesrepublik zu einer Lachnummer degradieren? Sie halten ihr Kärtchen hoch und gehen hochbefriedigt nach Hause –, vielleicht weil sie der Angela Merkel nicht erneut auf den Thron geholfen und der Union, um Andrea Nahles zu zitieren, eins in die Fresse gegeben haben. Damit ist für sie die Sache erledigt. Dass sie sich als Genossen dabei selbst beschädigen und dass die SPD vielleicht auch selbst am letzten Wahlergebnis schuld ist, kommt ihnen nicht in den Sinn. Und dass sie die Bundesrepublik für viele Monate zur Handlungsunfähigkeit verdammen, auch nicht. Sollen die in Berlin, soll Deutschland, soll Europa doch sehen, wie sie alle miteinander zurechtkommen.

Eine winzige Minderheit bestimmt

Noch irrsinniger ist die Rückführung der Entscheidung auf eine Mitgliederbefragung. Warum tut sich die SPD einen solchen Tort an, nachdem sie damit schon einmal danebenlag, als sie Rudolf Scharping auf den Schild für die Kanzlerschaft hob? Was befähigt eigentlich einen durchschnittlichen Sozialdemokraten – einen Lehrer, einen städtischen Angestellten oder einen Universitätsprofessor –, also einen, der unter Umständen von der Komplexität der Politik keine Ahnung hat, dazu, die Entscheidung von Abgeordneten und Berufspolitikern beiseitezuschieben?

Wenn die Mitglieder von Parteien, die nach aller Erfahrung ja nicht einmal vollzählig an der Abstimmung teilnehmen, bestimmen, ob regiert werden darf oder nicht, dann bedeutet dies nichts anderes als eine Entmachtung des Bürgers, eine Entwertung der Wahlen und des Parlaments. Dann haben wir hier – befördert von einer winzigen Minderheit – eine Nebenwahl und ein Nebenparlament, welche die Möglichkeiten der Verfassung außer Kraft setzen.

Stellen wir uns also einmal vor, der SPD-Parteitag sagt Nein, oder die Mitglieder machen die Groko nicht mit: Was dann? Dann gibt es Neuwahlen, und der Zirkus fängt von vorne an. Da kann man doch nur auf die zitternden Knie sinken und beten: Herr, schmeiß Hirn ra.