Unter dem Eindruck des islamistischen Terrors findet sich die französische Nation zusammen – eine Einigkeit, die das Land schon lange nicht mehr erlebt hat. Doch ob der Zusammenhalt andauern wird, ist fraglich. Ein Kommentar von StZ-Korrespondent Axel Veiel.

Paris - Balsam ist das für die geschundene Volksseele. Ohnmächtig hatten die Franzosen mit ansehen müssen, wie Terroristen mordeten, sich an der Meinungsfreiheit vergingen, die Grundfesten der Republik erschütterten. Die Täter waren im Namen Allahs aufgetreten und hatten damit die sechs Millionen Muslime des Landes dreist vereinnahmt. Vordenker warnten zu Recht vor dem Zerfall einer Nation, in der sich Gräben der Angst auftun zwischen Muslimen, denen der Generalverdacht des Terrors entgegenschlägt, und dem Rest der Nation, der sich vor den Stigmatisierten fürchtet. Aber nun haben Christen, Muslime und Juden gemeinsame Sache gemacht. Zu Millionen sind sie in ganz Frankreich und speziell in Paris am Sonntag auf die Straße gegangen. Allesamt haben sie den Terror verurteilt, sich zu Toleranz und Meinungsfreiheit bekannt und der ermordeten Journalisten des Satire-Blattes „Charlie Hebdo“ gedacht.

 

Seit dem Ende der Besatzungszeit und dem Sieg über Nazi-Deutschland hat man die Grande Nation nicht mehr so geeint erlebt. Wie ein Wunder mutet das an. Durch die Wirtschaftskrise zermürbt, durch die Globalisierung verunsichert, von wachsendem Islamismus bedroht, hatten die Franzosen in Scharen den Rückzug ins Private angetreten. Bei Wahlen stellten sie immer neue Stimmenthaltungsrekorde auf, machten den „das System“ in Frage stellenden rechtspopulistischen Front National zur stärksten politischen Kraft. Der höchste Repräsentant des Landes, Staatschef Francois Hollande, wusste zuletzt nicht einmal mehr ein Fünftel seiner Landsleute hinter sich. Doch nun haben ausgerechnet Terroristen Niedergang und Zerfall aufgehalten. Diejenigen, die darauf aus sind, durch Barbarei die freien westlichen Gesellschaften zu lähmen, zu zerstören, haben das Gegenteil erreicht. Die Franzosen scheinen zum Glauben an die Ideale der Republik zurückgefunden zu haben, zum Glauben an Freiheit und Brüderlichkeit zumal.

Sogar Netanjahu und Abbas marschieren mit

Das lässt Träume reifen. Träume davon, dass Muslime, Christen und Juden das staatstragende Ideal vom gedeihlichen Nebeneinander unter dem Dach eines strikt weltlich ausgerichteten Staates mit neuem Leben erfüllen; davon, dass Muslime, Christen und Juden den Islam gemeinsam vom Islamismus befreien – und zwar nicht nur in Frankreich. Die halbe Welt hat sich am Sonntag mit den Franzosen solidarisiert. Spitzenpolitiker aus 50 Ländern haben den Pariser Schweigemarsch angeführt, darunter Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihre Kollegen aus Großbritannien, Italien, Spanien. Selbst einander in regelrechter Feindschaft verbundene Repräsentanten – Israels Premier Benjamin Netanjahu und Palästinenserpräsident Mahmud Abbas – haben sich Seit’ an Seit’ zu Toleranz und Freiheit bekannt.

Die Einigkeit dürfte nur eine Momentaufnahme sein

Aber wie das mit Träumen so ist – sie platzen nur allzu leicht. Die am Sonntag aufgekommenen Träume dürften da keine Ausnahme machen angesichts der Herausforderungen des Alltags. Der Schock über den Terrorakt war es, der die sozial und religiös auseinanderdriftende französische Gesellschaft zusammengeführt hat. Doch wenn Staatsmänner wie Netanjahu und Abbas sich in den Demonstrationszug eingereiht haben, dann weil die politische Korrektheit es gebietet, nicht weil sie zum Wohl des Friedens gemeinsame Sache zu machen gedächten. Dass sich eine  Million Franzosen willig hinter Staatschef Hollande versammeln, der es in zweieinhalb Jahren nicht verstanden hat, Wege aus der Wirtschaftskrise zu weisen, dürfte sich so schnell nicht wiederholen. Und auch von einem gefestigten Religionsfrieden kann in Frankreich keine Rede sein. Aber auch wenn die Träume bald von den Realitäten eingeholt werden sollten: Allein die Tatsache, dass die Franzosen, ja, die Menschen überhaupt, die Kraft zu gemeinsamen Träumen aufbringen, ist ein großes Glück.