Sowohl die eurokritische Alternative für Deutschland (AfD) als auch die europabegeisterte SPD dürfen sich als eigentliche Wahlsieger fühlen, kommentiert der StZ-Politikchef Rainer Pörtner.

Politik/Baden-Württemberg: Rainer Pörtner (pö)

Stuttgart - Bernd Lucke und seine Alternative für Deutschland haben sich mit dem Erfolg bei der Europawahl als politische Größe in der Bundesrepublik etabliert. Scheiterte die AfD bei der letzten Bundestagswahl noch haarscharf an der Fünfprozenthürde, zieht sie nun erstmals in ein bedeutendes Parlament ein. Sie darf sich neben der SPD als eigentliche Wahlgewinnerin in Deutschland fühlen. Ist das schlimm? Ist das gar gefährlich?

 

Die Versuche, Lucke und andere Führungsleute der AfD einer rechtsextremen oder fremdenfeindlichen Gesinnung zu überführen, blieben ohne Erfolg. Gleichwohl hat die Partei wissentlich auch Menschen solcher Gesinnung angezogen. Aber im Kern entstammt die AfD und ihre Wählerschaft der Mitte der Gesellschaft. Sie hat sich erfolgreich zur Stimme eurokritischer Meinungen gemacht. Ein Unwohlsein, das wegen der milliardenteuren Eurorettung und wachsender Macht schlecht kontrollierter EU-Institutionen entstand, war schon länger vorhanden in einem beachtenswerten Teil der Bevölkerung. Es fand jedoch in anderen Parteien keine Heimat.

Die Europäer müssen sich verständigen: Welche EU wollen sie?

Selbst wenn man den Positionen der AfD nichts abgewinnen kann: ihr Erscheinen auf der politischen Vorderbühne muss kein Schaden sein. Es kann die Verhältnisse klären helfen, denn so wie das Erstarken europakritischer Gruppierungen in vielen anderen Ländern auch, zwingt der Erfolg der AfD die europafreundlichen Parteien hoffentlich zu einem vertieften Diskurs über das, was die EU werden soll.

Wollen die Europäer weniger Europa als heute? Haben sie genug von den Einmischungen Brüssels? Ist ihnen die Europäische Union groß genug, vielleicht schon zu groß? Oder wollen sie noch mehr Gemeinsamkeit, um sich zusammen auf den globalen Märkten, gegen private und staatliche Datenkraken aus aller Welt, gegen militärische Bedrohungen an ihren Grenzen zu behaupten? Die Spitzenkandidaten Jean-Claude Juncker für die Konservativen und Martin Schulz für die Sozialdemokraten waren für diese Art des Meinungsstreits nicht geeignet. Zu nah sind ihre Auffassungen, zu verwoben sind beide in das Brüsseler Machtgefüge, als dass sich an diesen beiden Protagonisten eines integrationsfreundlichen Kurses die eigentlich notwendige Debatte hätte entzünden können. Die Tatsache, dass in Deutschland aktuell eine große Koalition herrscht, mit der eine große Mehrheit der Deutschen zufrieden ist, dämpfte den Willen zum Meinungskampf zusätzlich.

Spielen jetzt noch mehr Parteien die nationale Karte?

Im Europäischen Parlament werden EU-Verächter wie die triumphierende Marine Le Pen und EU-Skeptiker trotz ihrer großen Zahl wohl wenig praktische Wirkung entfalten. In Straßburg entscheidet von jeher eine inoffizielle große Koalition. Wichtiger wird deshalb die Frage sein, ob sich die bisher EU-freundlichen Parteien in den Mitgliedstaaten unter dem Druck anpassen und selber die nationale Karte verstärkt ausspielen – oder ob sie argumentativen Gegendruck aufbauen.

Die Sozialdemokraten haben mit ihrem europabegeisterten Spitzenkandidaten Martin Schulz die eigenen Anhänger in Deutschland mobilisiert. Der CSU dagegen ist ihr Doppelspiel, die Europa-Kanzlerin Angela Merkel zu unterstützen und gleichzeitig in Melodien der AfD einzustimmen, gründlich misslungen.

In den Niederlanden haben die Wähler dem Rechtsausleger Geert Wilders seine Grenzen aufgezeigt. Und selbst im traditionell nationalstolzen Großbritannien hat der Erfolg des Nigel Farage einen überraschenden Effekt gehabt: Parallel mit dem Aufwachsen dieser nationalistischen Strömung stieg auch die Zahl der Briten, die voller Inbrunst die EU-Mitgliedschaft ihres Landes bejahen. Vielleicht erzeugt die AfD in Deutschland einen ähnlichen, von ihr ganz und gar nicht gewollten Effekt. Dann allerdings bliebe sie nur eine Episode.